Europawahl 2024 : Die Mitte im EU-Parlament bleibt stabil
Die Rechtsaußen-Parteien haben bei der Europawahl wie prognostiziert zugelegt, aber die Europäische Volkspartei (EVP) um CDU und CSU ist mit Abstand stärkste Kraft.
Die Europawahlen haben an der Machtverteilung im Europäischen Parlament nicht spektakulär viel verändert. Doch hinter dem Gesamtergebnis verbergen sich Erdrutsch-Resultate in wichtigen EU-Staaten, die das vereinte Europa nachhaltig beunruhigen: Rechtsaußen-Parteien sind in Frankreich, Österreich, Italien und Ungarn stärkste Kraft geworden, in Frankreich rief Präsident Emmanuel Macron deshalb Neuwahlen aus. Unterm Strich jedoch hat die christdemokratische Parteienfamilie der EVP einen deutlichen Sieg eingefahren, auch in Deutschland liegt sie klar vorn. Ob dieser Erfolg auch für die Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von Leyen (CDU) reicht, ist noch nicht sicher.
Rechtsaußen-Parteien konnten zulegen
Im Europaparlament konnte die Europäische Volkspartei (EVP), der auch CDU und CSU angehören, ihre Position als stärkste Kraft noch ausbauen und stellt nun 189 der 720 Abgeordneten. Zweitstärkste Kraft bleiben die Sozialdemokraten (S&D), die mit leichtem Verlust auf 135 Mandate kommen. Größere Einbußen verzeichnen die Liberalen (Renew) mit 79 Sitzen und die Grünen mit 53 Sitzen, auf die Linke entfallen 36 Mandate.
Die Mitte steht damit weiter solide: EVP, S&D und Liberale, die im Parlament bislang als loses Bündnis zusammengearbeitet haben, hätten noch eine klare Mehrheit von 403 Sitzen. Wie erwartet legten die Rechtsaußen-Parteien zu: Das relativ gemäßigte Rechtsbündnis der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) verfügt über 73 Sitze, das extremere Bündnis Identität und Demokratie (ID) über 58. Hinzu kommen aber noch Rechtsaußen-Abgeordnete, die vorerst keiner Fraktion angehören, unter anderem die 15 Parlamentarier der AfD und die zehn der ungarischen Fidesz-Partei. Insgesamt sind nach der Wahl sogar noch fast hundert Abgeordnete, meist aus Kleinstparteien, keiner Fraktion zuzuordnen, das erschwert ein genaues Bild. Aber nach vorläufiger Schätzung dürften organisierte Rechtsaußen-Kräfte etwa ein Viertel der Abgeordneten stellen statt bisher ein Fünftel - sie sind gestärkt, von einer Blockademöglichkeit aber auch künftig weit entfernt.
Ampel-Parteien erleiden Verluste, besonders die Grünen stürzen ab
In Deutschland konnten CDU und CSU ihr Ergebnis von 2019 noch leicht steigern, mit 30 Prozent sind sie klarer Wahlsieger (plus 1,1 Prozentpunkte). Zweitstärkste Partei ist die AfD mit 15,9 Prozent, eine deutliche Verbesserung gegenüber den elf Prozent von vor fünf Jahren. Die regierenden Ampelparteien erlitten Verluste, die SPD fuhr mit 13,9 Prozent einen neuen historischen Minusrekord bei einer bundesweiten Wahl ein (minus 1,9 Prozentpunkte). Die Grünen erlitten die stärksten Einbußen, sie stürzten von 20,5 Prozent auf jetzt nur noch 11,9 Prozent ab. Die FDP kam auf 5,2 Prozent (minus 0,2 Prozentpunkte). Das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) erzielte aus dem Stand 6,2 Prozent - die Linke erreichte dagegen nur 2,7 Prozent, 2019 waren es mit 5,5 Prozent noch doppelt so viel. Die kleinen Parteien Freie Wähler, Volt, Die Partei, ÖDP, Tierschutzpartei, Familienpartei und Partei des Fortschritts errangen ebenfalls Mandate.
Europaweit finden vor allem die zum Teil haushohen Siege von Rechtsparteien in wichtigen Mitgliedstaaten Beachtung: In Frankreich wurde die rechtsradikale Partei Rassemblement National von Marine Le Pen mit ihrem Spitzenkandidaten Jordan Bardella stärkste Kraft und holte mit 31,4 Prozent mehr als doppelt so viel wie Macrons proeuropäisches Mitte-Lager, das auf 14,6 Prozent kam. Knapp dahinter landeten die Sozialisten mit 13,8 Prozent. Macron kündigte noch am Wahlabend als Konsequenz aus der Niederlage eine Neuwahl der Nationalversammlung an.
Der französische Präsident ist angeschlagen, dagegen geht Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni gestärkt aus der Wahl hervor: In Italien wurde ihre rechtspopulistische Regierungspartei Fratelli d'Italia führende Kraft. Sie kommt auf 28,8 Prozent, ein Plus von mehr als 20 Punkten im Vergleich zur Wahl 2019. Auf Platz zwei liegt ein linkes Bündnis um die sozialdemokratische PD mit 24,1 Prozent. In Österreich gewann die rechtspopulistische FPÖ mit 25,4 Prozent vor der konservativen ÖVP (24,5 Prozent) und der sozialdemokratischen SPÖ (23,2 Prozent). In Polen erreichte die liberalkonservative Bürgerplattform von Ministerpräsident Donald Tusk mit 37 Prozent knapp Platz eins vor der nationalkonservativen PiS-Partei, die auf 36 Prozent kommt. In Ungarn konnte sich die Fidesz-Partei von Premier Viktor Orbán zwar mit 44,2 Prozent auf Platz eins behaupten, im Vergleich zur Wahl 2019 ist das aber ein Verlust von acht Prozentpunkten; Orbáns Herausforderer Péter Magyar erreichte mit seiner neuen Partei Respekt und Freiheit 29,5 Prozent.
Wie formieren sich die Parteien am rechten Rand?
Magyars sieben Abgeordnete haben bereits eine Einladung, sich der EVP-Fraktion anzuschließen. Nicht nur die Christdemokraten hoffen auf Zuwachs, wenn sich das Parlament bis Anfang Juli neu sortiert. Am bislang zersplitterten rechten Rand gibt es Bemühungen, eine größere, schlagkräftige Gruppe zu bilden, die Chancen gelten indes als mäßig: Marine Le Pen, deren Rassemblement National bislang zur extremeren ID-Fraktion gehört, würde sich gern mit Melonis Fratelli d'Italia von der gemäßigten EKR-Fraktion zusammentun: "Dies ist der Moment, um sich zu vereinen", wirbt Le Pen. Dass Meloni sich darauf einlässt, ist unwahrscheinlich; sie dürfte eher auf eine lose Zusammenarbeit mit der EVP spekulieren, was sie in die Nähe des Machtzentrums rücken würde. Viktor Orbán sucht Anschluss bei der EKR-Fraktion, aber dagegen wehren sich Rechtspopulisten aus Skandinavien. Die AfD hofft, nach dem Ausschluss ihres Spitzenkandidatin Maximilian Krah aus der deutschen Abgeordnetengruppe wieder in die ID-Fraktion aufgenommen zu werden, handelte sich aber kurz nach der Wahl erstmal eine - womöglich vorläufige - Absage ein.
Es wird noch dauern, bis sich das Parlament sortiert hat. Das macht es für Ursula von der Leyen nicht leichter, eine Mehrheit für ihre Wiederwahl zu organisieren. Die 65-Jährige bekräftigte am Wahlabend den Anspruch, auch die nächsten fünf Jahre als Präsidentin die EU-Kommission zu führen. Allerdings benötigt sie eine doppelte Mehrheit: Sie muss erst vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit nominiert werden, danach muss das EU-Parlament sie mit absoluter Mehrheit wählen. Die Regierungschefs dürften beim informellen Gipfel am Abend des 17. Juni ein Personalpaket vorbereiten, das sie beim regulären Gipfeltreffen Ende Juni beschließen wollen.
Dass von der Leyen als Teil des Pakets zur Wiederwahl vorgeschlagen wird, halten Diplomaten in Brüssel angesichts des deutlichen Wahlsiegs der EVP für sehr wahrscheinlich. Macron, der vor der Wahl andere Personalpläne hatte, gilt als zu geschwächt, um von der Leyen zu stürzen. Ungewöhnlich früh zeichnet sich deshalb eine Einigung ab, auch auf die anderen Spitzenjobs: Die Position des Ratspräsidenten könnten die Sozialdemokraten mit dem früheren portugiesischen Premier António Costa besetzen, während das Amt des EU-Außenbeauftragten an die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas gehen könnte. Zur Absprache gehört auch, dass die Christdemokratin Roberta Metsola ihr Amt als Parlamentspräsidentin fortsetzen kann. Ihre Wahl gilt als sicher, wenn die Abgeordneten Mitte Juli zur ersten Plenarsitzung zusammenkommen.
Wiederwahl von Ursula von der Leyen ist noch nicht sicher
Von der Leyen, die sich dann ebenfalls der Wahl stellen müsste, hat indes noch zu kämpfen. Die EVP, Sozialdemokraten und Liberale, die von der Leyen beim letzten Mal mit ganz knappem Ergebnis ins Amt brachten, haben rechnerisch zwar auch diesmal eine Mehrheit.
Doch weil es keinen Fraktionszwang gibt und von der Leyens Stil manche Abgeordneten geärgert hat, ist fraglich, ob sie die erforderlichen 361 Stimmen erreicht - in Brüssel kursieren Analysen, nach denen von der Leyen von den drei Fraktionen nicht 400, sondern nur etwa 340 Stimmen bekäme. Lässt sich von der Leyen also auch mit den Stimmen der Rechtsaußen-Parteien, vor allem aus Melonis Lager, wählen? Von der Leyen und führende EVP-Politiker halten sich das als Option offen, doch drohen Sozialdemokraten und Liberale, in einem solchen Fall ihre Zustimmung zu verweigern.
Erstmal spricht von der Leyen nun mit den beiden Fraktionen, vielleicht auch bald mit den Grünen. Von der Leyen könnte am Ende helfen, dass die Abstimmung geheim ist. So zeigt sie sich "ziemlich zuversichtlich", dass sie als Kommissionspräsidentin weitermachen kann.
Der Autor ist EU-Korrespondent der Funke Mediengruppe in Brüssel.