Neuwahlen in Frankreich : Macron will Klarheit nach der Wahlschlappe
Präsident Macron setzt nach der verlorenen Europawahl Neuwahlen für das Parlament an. Gewinnerin des Manövers könnte die Rechtspopulistin Marine Le Pen sein.
Präsident Emmanuel Macron will auch bei einem Wahlsieg der Rechtspopulisten im Amt bleiben.
Emmanuel Macron kommt bei fast allen Terminen zu spät. Nach den Europawahlen war der französische Präsident allerdings einmal pünktlich. Um 21.00 Uhr begann er seine überraschend angesetzte Fernsehansprache, in der er vorgezogene Parlamentswahlen für den 30. Juni und 7. Juli ankündigte. "Die Herausforderungen verlangen nach Klarheit", begründete Macron seine Entscheidung, die wie eine Bombe einschlug.
Marine Le Pen: "Wir sind bereit, die Macht auszuüben"
Der Staatschef reagierte mit seiner Ankündigung auf den überwältigenden Sieg des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN), der bei den Europawahlen 31,5 Prozent der Stimmen erhalten hatte, doppelt so viel wie die Präsidentenpartei Renaissance. "Wir sind bereit, die Macht auszuüben", erwiderte die Frontfrau des RN, Marine Le Pen, kurz nach der Ansprache des Staatschefs.
Ihr Spitzenkandidat Jordan Bardella hatte bei den Europawahlen das beste Ergebnis überhaupt seit 40 Jahren eingefahren. Nun will Le Pen den 28-Jährigen als Regierungschef ins Pariser Palais Matignon schicken. Dazu müsste ihr RN, der bisher 89 Abgeordnete stellt, allerdings eine Mehrheit der 577 Mandate gewinnen. In der neuen Assemblée Nationale könnte der RN laut einer Umfrage des Instituts Harris Interactive mit 235 bis 265 Sitzen rechnen. Das Präsidentenlager, das bisher eine relative Mehrheit hatte, dürfte nur noch auf 125 bis 155 Parlamentarier (derzeit 249) kommen. Das Linksbündnis sieht das Institut bei 115 bis 145 Sitzen (derzeit 153) und die konservativen Républicains (LR) bei 40 bis 55 Sitzen (derzeit 74).
Schwierige Mehrheitsfindung erwartet
Die Bildung einer stabilen Mehrheit erscheint angesichts dieser Zahlen schwierig. Marine Le Pen bemüht sich deshalb um Verbündete, vor allem aus den Reihen der Konservativen. Deren Parteichef Éric Ciotti kündigte gegen alle parteiinternen Absprachen an, dass LR eine Allianz mit dem RN bilden werde, einen "nationalen Block". Der 58-Jährige hatte sich bereits 2022 gegen Macron in Stellung gebracht, als er verkündete, er würde lieber den wegen Rassismus verurteilten Rechtsextremisten Éric Zemmour wählen als den Präsidenten.
Nach seiner Entscheidung war Ciotti allerdings weitgehend isoliert: Der Vorstand schloss ihn einstimmig aus der Partei aus. "Sie haben einen Vorsitzenden, der einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist", bemerkte Macron bei einer Pressekonferenz am Mittwoch. Der Staatschef warnte vor "Bündnissen gegen die Natur", die sich an den beiden extremen Polen bildeten. Damit meinte er neben Ciotti die Allianz der Linksparteien, die sich am Montag zu einer Volksfront zusammengefunden hatte.
Bereits 1936 hatte sich die Linke zu einem solchen "Front Populaire" zusammengeschlossen, um den Aufstieg des Faschismus zu stoppen. Der neuen Volksfront gehören Sozialisten, die Linkspartei La France Insoumise (LFI), Kommunisten und Grüne an. Ein ähnlicher Zusammenschluss der Linksparteien, der seit 2022 bestand, war nach dem Hamas-Angriff auf Israel zerbrochen, weil LFI sich geweigert hatte, die Attacke als Terrorismus zu verurteilen. Im Europawahlkampf fuhr der starke Mann von LFI, Jean-Luc Mélenchon, eine pro-palästinensische Kampagne mit antisemitischen Untertönen, die vor allem in den Problemvorstädten verfing. Zweimal enthüllten LFI-Abgeordnete in der Nationalversammlung die Palästinenserflagge.
Linkes Lager ist wegen Palästina zerstritten
Das neue Bündnis ist gerade wegen Mélenchon umstritten. Der sozialistische Spitzenkandidat bei den Europawahlen, Raphaël Glucksmann, lehnte die Volksfront ab, solange LFI dort den Ton angebe. Der 44-Jährige war bei den Europawahlen nach Bardella und Hayer mit fast 14 Prozent auf dem dritten Platz gelandet. Macron umwarb in seiner Pressekonferenz die Glucksmann-Wähler, die sicher keinen Regierungschef Mélenchon wollten. Für die Partei des unbeliebten Präsidenten ist es schwer, Verbündete zu finden. Ein Angebot von Parteichef Stéphane Séjourné, auf Kandidaturen zugunsten anderer Bewerberinnen und Bewerber des "republikanischen Lagers" zu verzichten, blieb bisher unbeantwortet. "Wenn am Tag danach die Extreme gestärkt wären, dann würde das die Schwächung Frankreichs bedeuten", räumte Macron ein.
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Im komplizierten französischen Wahlsystem kommen bei der Parlamentswahl alle Kandidatinnen und Kandidaten in die Stichwahl, die mehr als 12,5 Prozent der Stimmen der eingeschriebenen Wähler erhalten. In der zweiten Runde reicht dann eine relative Mehrheit aus. Im Falle von Dreierkonstellationen könnte ein Kandidat verzichten, um einen anderen zu unterstützen - beispielsweise gegen den Rassemblement National. Eine solche "republikanische Front" war bis vor einigen Jahren noch üblich, brach aber spätestens 2022 zusammen.
Frankreich könnte nach der Wahl politsch gelähmt sein
Auch deshalb ist die Le-Pen-Partei, die die "nationale Priorität" für Franzosen gegenüber Eingewanderten fordert, bei den Parlamentswahlen nun haushoher Favorit. Eine absolute Mehrheit würde zu einer "Kohabitation", einer Zwangsgemeinschaft zwischen Macron und einer RN-Regierung, führen. Jeder Gesetzentwurf dürfte dann ein hartes Tauziehen zwischen Legislative und Exekutive werden, da Macron die Texte ablehnen und eine neue Debatte verlangen könnte. Der Präsident hat auch Rechte in der Außen- und Verteidigungspolitik, ist aber auf die Zustimmung der Regierung beispielsweise bei der Militärhilfe für die Ukraine angewiesen.
Wahrscheinlicher als eine absolute ist eine relative Mehrheit für den RN. Bei jedem Gesetz müsste Bardella dann Allianzen mit anderen Parteien schmieden. Außer einigen Konservativen rund um Ciotti stehen allerdings bisher kaum Partner zur Verfügung. Das Regieren dürfte deshalb für Bardella unmöglich werden. Eine dritte Möglichkeit wäre eine Dreiteilung der Assemblée Nationale: Die drei Blöcke, RN, Linksparteien und Renaissance wären gleich stark. In einem solchen Fall wäre Frankreich blockiert, denn Präsident Macron kann erst in einem Jahr wieder Neuwahlen ansetzen. "Wir würden in eine institutionelle und politische Krise stürzen", warnt der Politologe Oliver Rouquan.
Macron denkt noch nicht an Rücktritt
Im Fall einer Blockade des Parlaments wird in Frankreich sogar ein Rücktritt des Präsidenten nicht ausgeschlossen. Macron lehnte einen solchen Schritt am Mittwoch zwar als "absurd" ab. Falls es aber doch so weit kommen sollte, würde Senatspräsident Gérard Larcher Interimspräsident. Neuwahlen könnten frühestens 20 Tage nach dem Rücktritt abgehalten werden. Macron könnte nicht wieder antreten. Er wäre dann Geschichte.
Die Autorin ist Korrespondentin in Paris.