Deutschland nach der Europawahl : "Viele junge Menschen fühlen sich nicht gesehen"
Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza erklärt, warum es keinen europaweiten Rechtsruck gibt und sich die Jugend konservativen und kleinen Parteien zuwendet.
Herr von Ondarza, wie bewerten Sie den Ausgang der Europawahl?
Nicolai von Ondarza: Die Europawahl hat noch immer den Charakter von 27 parallelen nationalen Wahlen und bleibt daher komplex. In Deutschland und Frankreich verzeichnen Rechtsaußenparteien einen sehr starken Zuwachs, während in anderen Mitgliedstaaten die Erfolge rechter Parteien begrenzt oder sogar rückläufig waren. Trotz dieser Verschiebung nach rechtsaußen können die bisherigen Mehrheitsfraktionen, also die Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokraten (S&D) und die Liberalen ihre Mehrheit behaupten. Die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament sind weniger stark verändert als erwartet.
Die großen Wahlsieger waren die konservativen oder rechten Parteien. Auch viele junge Menschen haben diesen Parteien ihre Stimme gegeben. 2019 lagen bei den jungen Europäerinnen und Europäern noch die Grünen ganz vorn. Woran liegt das?
Nicolai von Ondarza: Man darf nicht vergessen, dass der Kontext 2019 ein ganz anderer war: Das war auf der einen Seite die große Zeit von Fridays for Future und auf der anderen Seite waren die Grünen beispielsweise in Deutschland nicht an der Bundesregierung beteiligt. Zudem beobachten wir, dass sich besonders die jüngeren Wählerinnen und Wähler stark über alternative Medien informieren und Nachrichten über soziale Medien konsumieren, wo kleinere Parteien und insbesondere die AfD stärker vertreten sind. Es ist daher die Aufgabe der Parteien, jüngere Wählerinnen und Wähler wieder abzuholen, wo sie derzeit sind: auf Plattformen wie TikTok oder Instagram.
Welche Auswirkungen werden die Wahlerfolge rechter Parteien haben?
Nicolai von Ondarza: Ich möchte betonen, dass der Erfolg der Rechtsaußenparteien weniger ausgeprägt ist als prognostiziert. Über die gesamte EU betrachtet gab es einen Zuwachs von zwei bis drei Prozent, aber keinen fundamentalen europaweiten Rechtsruck. Dennoch wird das Europäische Parlament insgesamt nach rechts rücken und konservativer. Und das wird sich in all den Bereichen zeigen, wo das Europaparlament Mitentscheidungsrechte hat: bei der Migrationspolitik, bei der Wirtschaftspolitik und auch im Verhältnis von Klimapolitik und Wettbewerbsfähigkeit.
Insgesamt ziehen 14 Parteien aus Deutschland ins Europaparlament ein, darunter viele kleine Parteien wie Volt. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Parteien ein?
Nicolai von Ondarza: Die Kleinstparteien haben viele Stimmen von jüngeren Wählerinnen und Wählern bekommen. Und diese Stimmen zeigen das Bedürfnis nach alternativen politischen Angeboten. Da es im Europaparlament keine Sperrklausel gibt, haben auch kleinere Parteien eine Chance auf einen Sitz. Die Wahl von kleinen Parteien zeigt: viele junge Menschen fühlen sich nicht gesehen, gerade von den etablierten Parteien.
Sie haben das BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) angesprochen. Das BSW wurde erst im September 2023 gegründet und ist erstmals bei einer Europawahl angetreten. Nun hat die Partei direkt sechs Sitze gewonnen.
Nicolai von Ondarza: Das BSW hat einen ersten Erfolg erzielt, aber ihr Einfluss in Europa hängt von den Verbündeten ab, die sie finden. Bisher nimmt die deutsche Linkspartei eine führende Rolle in der europäischen Linken ein. Das BSW könnte nun mit der Linkspartei zusammen in einer Fraktion der Europäischen Linken sitzen – was nach der Abpaltung von Die Linken im vergangenen Jahr ungewöhnlich wäre. Oder das BSW gründet eine neue Fraktion, die der politischen Ausrichtung des BSW entspricht. Da würden sich Verbündete wie beispielsweise die Smer Partei von dem slowakischen Ministerpräsidenten Fico anbieten.
Mehr zum Ausgang der Europawahl
Die Union hat die Europawahl in Deutschland mit großem Abstand gewonnen - vor der AfD, die zweitstärkste Kraft wurde. Die Grünen stürzen im Vergleich zu 2019 ab.
Ob EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihr Amt behält, ist fraglich. Konkurrenten gibt es viele und es gilt zwei Hürden für die zweite Amtszeit zu nehmen.
Die Regierungschefs geben der neuen EU-Kommission und der Person an ihrer Spitze einen groben Rahmen vor.
Es könnten sich also neue Fraktionen im Europaparlament bilden?
Nicolai von Ondarza: Genau. Aber obwohl die Möglichkeiten gegeben sind, wird es nach aktuellem Stand schwierig. Zwar gibt es relativ viele fraktionslose Abgeordnete, aber die Bildung neuer Fraktionen ist nicht so einfach: Man braucht 23 Abgeordnete aus mindestens sieben Staaten. Die AfD hat 15 Abgeordnete und müsste vor allem kleinere Partner aus sechs EU-Staaten finden. Das BSW hat sechs Abgeordnete und bräuchte also zusätzlich Verbündete mit mehr Abgeordneten. Beide müssen dafür wohl auch Abgeordnete aus bestehenden Fraktionen abwerben - die anderen Fraktionslosen reichen dafür nicht aus. Daher werden wahrscheinlich die sieben Fraktionen weiterarbeiten, die es aktuell im EU-Parlament gibt, und das BSW wird wahrscheinlich eine oppositionelle Rolle im Europaparlament einnehmen.
Aus ihren Analysen zur Wahl lässt sich schließen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht gesehen fühlen, besonders auf europäischer Ebene. Was müsste sich hier verändern?
Nicolai von Ondarza: Ich glaube, die nationalen Parteien haben die Verantwortung, den Europawahlkampf europäischer und ernsthafter zu gestalten. Auch die Struktur der Europawahlen trägt dazu bei: Wir wählen nationale Parteien, deren Zugehörigkeit zu einer europäischen Fraktion oft noch unklar ist. Wie gesagt, wissen wir bisher nicht, in welcher Fraktion zukünftig die AfD oder das BSW mit ihren Abgeordneten sitzen werden. Es gibt seit langem Vorschläge aus dem Europaparlament selbst, die Europawahlen zu harmonisieren. Beispielsweise könnten transnationale Listen eingeführt werden, um europaweite Parteien zu stärken und die Wahlbedingungen zu vereinheitlichen. Hierfür wäre aber die Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten nötig.