Leitlinien für die neue EU-Kommission : Verteidigung und Sicherheit rücken ins Zentrum
Die Regierungschefs geben der neuen EU-Kommission und der Person an ihrer Spitze einen groben Rahmen vor.
Nach der Europawahl geht es nicht nur darum, wer die Spitzenposten in Brüssel besetzt. Parallel zur Personalsuche werden die Staats- und Regierungschefs ihre Beratungen über die politischen Leitlinien für die nächsten fünf Jahre finalisieren, die sogenannte "strategische Agenda". Begonnen hatte dieser Prozess im vorigen Oktober beim informellen Europäischen Rat in Granada. Es folgten Treffen von Ratspräsident Charles Michel mit Gruppen von Regierungschefs. Abgeschlossen werden soll er Ende Juni beim regulären Rat in Brüssel. Im Idealfall soll dann auch das Personalpaket stehen.
Diese Gleichzeitigkeit ist kein Zufall. Die Regierungschefs geben der neuen EU-Kommission und der Person an ihrer Spitze einen groben Rahmen vor. In diesem Rahmen kann der oder die Kommissionsvorsitzende dann mit den Fraktionen im Europäischen Parlament über die Schwerpunkte der neuen Legislaturperiode verhandeln und um Zustimmung werben. Schon Mitte Juli könnte dann das Parlament über die Nominierung des Rates abstimmen.
Vor fünf Jahren drehte sich noch alles ums Klima
Vor fünf Jahren drehte sich nach der Wahl alles um den Klimaschutz - Ursula von der Leyen erfand den Green Deal. Das war eine Priorität des Europäischen Rats gewesen, neben einer aktiveren Rolle der EU in der Welt, einem besseren Schutz gegen Terrorismus und der digitalen Transformation der Wirtschaft. Diesmal stehen andere Themen im Zentrum. Das neue große Thema soll Sicherheit und Verteidigung sein - eine Lehre auch aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine. "Es herrschte ein überwältigender Konsens über das Ziel, mehr Verantwortung für unsere Sicherheit und Verteidigung zu übernehmen", heißt es in einer internen Zusammenfassung, die Ratspräsident Michel für die Regierungschefs verfasst hat. Dazu gehörten der Aufbau eines Binnenmarkts für Rüstungsgüter, eine Ausweitung der Produktionskapazitäten und mehr gemeinsame Beschaffungen der Mitgliedstaaten.
Dafür müssten erhebliche Mittel aufgebracht werden, über einen Verteidigungsfonds, Kredite der Europäischen Investitionsbank und die Möglichkeit von "EU Verteidigungsbonds". Mit letzterem sind gemeinsame Anleihen gemeint, welche die EU-Kommission aufnehmen könnte - also neue Schulden. "Diese neue Finanzierung könnte sich beispielsweise auf große europäische Vorzeigeprojekte konzentrieren", heißt es in dem Papier. Zwei davon werden genannt: der Aufbau eines EU-Luftverteidigungsschilds und die Verbesserung der Cybersicherheit in der EU.
Die Idee eines Luftverteidigungsschilds spielte schon im Wahlkampf eine wichtige Rolle. "Europa wird nur so lange sicher sein, wie der Himmel über ihm sicher ist", schrieben die Regierungschefs Polens und Griechenlands, Donald Tusk und Kyriakos Mitsotakis, Ende Mai an Ursula von der Leyen. Sie forderten ein europäisch finanziertes Programm, das EU-Rüstungsunternehmen einen Anreiz biete, in Spitzentechnologie zu investieren.
Michel unterstützt Vorstoß nach mehr europäischen Investitionen für Verteidigung
Von der Leyen machte sich den Vorstoß umgehend in ihrem Wahlkampf als Spitzenkandidatin zu eigen. Auch Charles Michel unterstützte ihn Anfang Juni. "Mehr europäische Investitionen für Verteidigung, einschließlich eines so auffälligen Projekts, das ist gut für uns", sagte er Anfang Juni im Gespräch mit der FAZ und weiteren europäischen Medien. Auf die Frage, ob die EU wirklich ein Vorhaben finanzieren sollte, das der Nato unterstellt werden müsste, antwortete er: "Es würde für uns mehr Einfluss bedeuten, was unser eigenes Schicksal angeht, aber auch, dass wir ein stärkerer Verbündeter in der Nato wären." Für eine solche Initiative zeichne sich "breite Unterstützung" ab.
Die EU müsste dann auch klären, ob sie es weiterhin ablehnt, Rüstungsgüter aus ihrem regulären Haushalt zu beschaffen. Es gibt gewichtige Stimmen, die das ändern wollen.
Migration bleibt ein Dauerbrenner
Ein Dauerbrenner bleibt das Thema Migration, das Michel ebenfalls unter den Schwerpunkt "ein starkes und sicheres Europa" subsumiert. Die Staats- und Regierungschefs wollen weitere Kooperationsvereinbarungen mit Herkunfts- und Transitländern schließen und mehr abgelehnte Bewerber zurückführen. Sie werden nun in ihren Staaten das neue Asylrecht umsetzen müssen, das im April beschlossen worden ist. Darin wird die Möglichkeit verschärft, Personen in sichere Drittstaaten zurückzubringen, ohne ihr Asylgesuch eingehend zu prüfen. Allerdings muss eine "sinnvolle Verbindung" zwischen Land und Bewerber bestehen - anders als beim britischen Ruanda-Modell, das einige EU-Staaten weiterhin als Vorbild betrachten. Denkbar ist, dass die Debatte darüber neu entbrennt, wenn die Zahl irregulärer Einreisen wieder anschwillt. Als zweiten Schwerpunkt führt Michel ein "wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa" auf.
Sorge vor Zurückfallen im Wettbewerb mit den USA und China
Dahinter verbirgt sich die Sorge der Mitgliedstaaten, dass die EU im Wettbewerb mit den USA und China zurückfällt - auch, weil sie zu lange darauf gesetzt hat, dass der Markt alles von selbst regelt. Nun sollen Abhängigkeiten von Dritten konsequent vermindert werden. Auch der Schutz der Seewege wird genannt. Im Binnenmarkt sollen Hürden beseitigt werden, um eine "geschäftsfreundliche Atmosphäre" zu schaffen.
Bemerkenswert ist, dass der Green Deal nun in diesen Kontext eingeordnet wird. Er soll zwar fortgeführt werden, aber nicht auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit gehen. Hier zeichnen sich allerlei Spannungsfelder ab. So wird in mehreren Staaten das beschlossene Verbrenner-Aus im Jahr 2035 in Frage gestellt, auch in Deutschland. Für 2026 ist eine Überprüfung der Verordnung vorgesehen - dann könnte der Konflikt offen ausbrechen.
Die Rechtsstaatlichkeit soll gestärkt werden
Der dritte Schwerpunkt für die strategische Agenda betrifft das Thema Werte und Rechtsstaatlichkeit. Die Staats- und Regierungschefs wollen einerseits pragmatisch mit Ländern wie China zusammenarbeiten. Andererseits soll die Rechtsstaatlichkeit im Innern der Union gestärkt werden. Wie das geschehen soll, ist allerdings schwer zu erkennen. Das Artikel-7-Verfahren hat sich als stumpfes Schwert erwiesen, weil sich Polen und Ungarn wechselseitig decken und vor Sanktionen schützen konnten. Zwar hat sich die Lage in Polen mit dem Regierungswechsel geändert, doch ist Ungarn mit der slowakischen Regierung ein neuer Verbündeter erwachsen.
Nur kurz in Michels Papier erwähnt wird der Zusammenhang zwischen einer Erweiterung der Union und inneren Reformen. Der Ratspräsident hatte dafür geworben, dass die Union bis 2030 aufnahmefähig werden solle, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Viele Staaten wollen sich nicht durch ein Datum die Hände binden. Trotzdem wird der Erweiterungsdruck steigen, sowohl auf dem westlichen Balkan als auch in der Ukraine, Moldau und Georgien.
Die Reform-Agenda ist lang
Die EU steht vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen muss sie ihre Handlungsfähigkeit bewahren, wenn sie weiter wachsen soll. Das betrifft etwa die Organisation der EU-Kommission, die schon jetzt zu groß ist. Sie würde noch größer, wenn es bei dem Prinzip bliebe, dass jedes Land einen Kommissar stellt. Eine weitere Baustelle ist die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in den Bereichen, die heute noch der Einstimmigkeit unterliegen. Das betrifft die Außenpolitik, Steuerfragen und die Erweiterung selbst.
Soll es der Europäischen Union ermöglicht werden, künftig mehr Schulden aufnehmen zu können? Hannes Koch sagt ja, Birgit Marschall hält das für den falschen Schritt.
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Zwei Tage vor der Europawahl in Deutschland haben die Fraktionen im Bundestag über die zukünftige Europapolitik debattiert.
Zum anderen muss die Europäische Union ihre Politiken reformieren, insbesondere die riesigen Haushalts-Posten für Landwirtschaft und Kohäsion. Die Ukraine ist der größte Agrarstaat Europas. Ihr Beitritt zu heutigen Bedingungen würde entweder das Subventionsgefüge sprengen oder die Zahlungen an bestehende Empfänger drastisch mindern. Ähnlich ist das bei den Kohäsionsprogrammen, mit denen die Lebensverhältnisse angeglichen werden sollen. Wenn der nächste Finanzrahmen für die Zeit von 2028 bis 2034 aufgestellt wird, stehen der Union unangenehme Debatten bevor - vor denen man sich derzeit noch drückt.
Im Europäischen Parlament wünschen sich viele einen Konvent, der weitreichende Vertragsänderungen beschließen könnte, auch wenn die Ansichten im Detail weit auseinandergehen. Unter den Staaten will das aber fast niemand. Es wäre ein "dummer Fehler" Energien auf etwas zu verschwenden, das auf mittlere Sicht unrealistisch sei, sagte Ratspräsident Charles Michel kurz vor der Europawahl.