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Wachsender Machtfaktor : Einfluss des EU-Parlaments ist spürbar gestiegen

Die Entscheidungsverfahren der EU-Gesetzgebung sind vielen fremd. Dabei bestimmt das EU-Parlament entscheidend über die Regeln für Gesellschaft und Wirtschaft mit.

23.05.2024
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5 Min
Foto: picture-alliance/dpa/Maurizio Gambarini

Gemeinsam mit den Finanzministern hat das EU-Parlament nach der Lehman-Pleite 2010 Vorgaben für Banken, Börsen, Fonds und Staatshaushalte verabschiedet.

Für viele Europäer ist das EU-Parlament ein unbekanntes und undurchsichtiges Wesen, eine Black Box. Nicolas Schmit, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Bas Eickhout, Terry Reintke, Walter Baier: Nur wenigen Bürgern sind die Spitzenkandidaten und Spitzenkandidatinnen vertraut, die bei den Europawahlen um die Gunst der Wähler buhlen. Und noch weniger haben eine klare Vorstellung davon, welche Rolle das EU-Parlament bei der Formulierung von Gesetzen hat, obwohl viele dieser Vorgaben unmittelbaren Einfluss auf ihr Leben haben. Die Entscheidungsverfahren der EU-Gesetzgebung sind den meisten Menschen ungefähr so fremd wie die Spielregeln beim Kricket.

Dem Europaparlament mangelt es an einem Initiativrecht

Die Tatsache, dass das EU-Parlament vielen Bürgern wenig vertraut ist, trägt dazu bei, dass sich in der öffentlichen Meinung der Eindruck hält, es handele sich um eine schwache Institution, um "kein echtes Parlament". Das jedoch ist eine Unterschätzung.

Das EU-Parlament verfügt zwar auch heute noch nicht über alle Kompetenzen, die Parlamente üblicherweise besitzen - allen voran mangelt es ihm am Initiativrecht, also dem Recht, eigene Gesetze vorzuschlagen. Zudem ist das EU-Parlament von einzelnen, durchaus wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen - dann nämlich, wenn sich die nationalen Regierungen entschließen, eine Verabredung nicht gesetzlich zu fixieren, sondern durch zwischenstaatliche Absprache - wie im Fall des Euro-Rettungsfonds ESM. Und schließlich gibt es im "ordentlichen Gesetzgebungsverfahren" der EU noch immer weiße Flecken - etwa steuerrechtliche Richtlinien, bei denen das EU-Parlament lediglich angehört wird.

Lobbyisten suchen die Nähe des Parlaments

Trotzdem: Der Einfluss des EU-Parlaments ist in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen. Es nimmt mittlerweile eine zentrale Rolle ein, wenn es darum geht, die Regeln für Wirtschaft und Gesellschaft in Europa festzulegen.

Ein - wenngleich nur anekdotischer - Beleg für diesen Bedeutungsgewinn ist, dass nach Angaben Brüsseler Immobilienmakler Büroräume am Square de Meeus und Place Lux heute begehrter sind als Räumlichkeiten rund um den Rondpoint Schuman. Anders gesagt: Lobbyisten internationaler Verbände und Konzerne siedeln sich längst lieber in direkter Nähe des EU-Parlaments an als in unmittelbarer Nachbarschaft der Zentrale der EU-Kommission. Zumindest die Interessensvertreter der Branchen und Unternehmen also messen dem EU-Parlament eine gewachsene Bedeutung zu.

Für die Annahme, dass das EU-Parlament heute einflussreicher ist als noch vor zehn und erst recht als noch vor 20 Jahren, gibt es aber noch mehr und vor allem belastbarere Argumente.

Mehr Entscheidungen, mehr Kompetenzen

Erstens ist das EU-Parlament seit 2009 formell an viel mehr politischen Entscheidungen maßgeblich beteiligt. Denn durch den Vertrag von Lissabon kann es internationale Verträge stoppen, über den Haushalt der EU mitentscheiden und ist in mehr Gesetzesverfahren als früher eingebunden, etwa auch, wenn es um Landwirtschaft oder Energiesicherheit geht.

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Zweitens haben sich die Kompetenzen des EU-Parlaments auch durch Urteile des EU-Gerichtshofs erweitert. So hat der EuGH mit einem Urteil 2022 dafür gesorgt, dass die EU-Abgeordneten jüngst an der Entscheidung über den Standort der EU-Anti-Geldwäschebehörde beteiligt wurden.

Drittens schließlich - und das ist am wichtigsten - nutzt das EU-Parlament die ausgeweiteten Spielräume von Jahr zu Jahr intensiver und füllt die formellen Kompetenzen dadurch mit Leben.

Beispiel Handelsverträge: Das EU-Parlament hat das Swift-Abkommen über die Weitergabe von Bankdaten ebenso gestoppt wie das Acta-Abkommen zur Bekämpfung von Markenpiraterie. Die EU-Abgeordneten haben damit den nationalen Regierungen die Stirn geboten.

Beispiel Gesetzgebungsverfahren: Die EU-Abgeordneten treten selbstbewusster gegenüber der EU-Kommission auf, wenn sie deren Gesetzesvorschläge an entscheidenden Stellen korrigieren - wie zuletzt bei der so genannten EU-Kleinanlegerstrategie. EU-Kommissarin Mairead McGuiness wollte unbedingt ein Teilverbot für Provisionsberatung einführen. Das EU-Parlament legte jedoch im April seine Marschroute für die Schlussverhandlungen in einem Plenumsbeschluss fest, der kein solches Provisionsverbot vorsieht.

Oettinger: Mehr Legitimation geht nicht

Beispiel Ernennung der Kommissare: Vor fünf Jahren waren die Rumänin Rovana Plumb und der Ungar Laszlo Trocsanyi als EU-Kommissare von ihren Regierungen nominiert worden. Aber das EU-Parlament lehnte beide ab. Sie mussten durch andere Vertreter aus Rumänien und Ungarn ersetzt werden. Der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger hat in seiner Amtszeit oft öffentlich beklagt, dass in weiten Teilen der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrsche, EU-Kommissare seien nicht demokratisch legitimiert.

Er sei in gleich mehreren Anhörungen von Abgeordneten ausgefragt und "gegrillt" worden, bevor ihn das EU-Parlament durchgewunken habe. Im Vergleich zu Bundesministern hätten EU-Kommissare, so unterstrich Oettinger bei mehreren Gelegenheiten, "also weit mehr demokratische Hürden und Legitimation." Über die Auswahl der Bundesminister habe schließlich nie ein Bundestagsabgeordneter abgestimmt.

Selbstbewusster im Auftreten

Beispiel Entschließungsanträge: Immer öfter nutzt das EU-Parlament die Option, mit Entschließungsanträgen die EU-Kommission zu drängen, Gesetzesvorschläge vorzulegen. So geht der EU-Wiederaufbaufonds maßgeblich auf die Forderung des EU-Parlaments zurück, einen milliardenschweren Geldtopf einzurichten, der durch die Aufnahme gemeinsamer Kredite gespeist werden kann.

Beispiel Trilog: Dem EU-Parlament gelingt es zunehmend, dem Ministerrat in den Schlussverhandlungen über Gesetze - im so genannten Trilog - Zugeständnisse abzuringen. Das lässt sich anhand des Vergleichs der endgültigen Kompromisse mit den Ausgangspositionen ablesen, mit denen einerseits Parlament und andererseits Rat in diese Gespräche gegangen sind. Das bestätigen aber auch Repräsentanten aus Ständigen Vertretungen ebenso wie Abgeordnete. "Im Verfahren zur Erstellung des mehrjährigen Finanzrahmens, also sozusagen in der Haushaltsplanung, tritt das EU-Parlament selbstbewusster als früher gegenüber dem Rat auf und kann mehr durchsetzen", berichtet beispielsweise der Europaabgeordnete Rasmus Andresen (Grüne).

Zeichen der Stärke: Kritik und Kompromisse

Voraussetzung dafür, die größeren politischen Spielräume tatsächlich zu nutzen, ist freilich die Fähigkeit des EU-Parlaments, unter den Fraktionen Kompromisse zu schmieden.

Wie auch im Ministerrat trifft hier die Beobachtung zu: Je größer die Krise, desto einfacher funktioniert die Verständigung. So ist es dem EU-Parlament gemeinsam mit den Finanzministern in den 2010er Jahren in Reaktion auf Lehman-Pleite und griechische Finanzierungsprobleme gelungen, binnen kürzester Zeit eine große Zahl komplexer Vorgaben für Banken, Börsen, Fonds und Staatshaushalte zu verabschieden - mitunter zum Leid der Finanzbranche, die dieses "financial repair" eher als "Regulierungs-Tsunami" wahrgenommen hat.

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Man muss keine Glaskugel haben, um vorauszusagen, dass es für das EU-Parlament in der nächsten Legislaturperiode deutlich schwieriger werden dürfte, sich in gleichem Tempo wie damals auf große Gesetzespakete zu verständigen.

Denn wenn sich die Prognosen im Juni auch nur ansatzweise bewahrheiten, werden die Parteien sowohl rechts der Mitte als auch am äußersten rechten Rand, also rechtskonservative und rechtsextreme Parteien, ihren Anteil an Sitzen ausbauen. Dadurch wird es für die bürgerlichen Parteien schwieriger, Mehrheiten zu organisieren - zumindest wenn sie weiterhin nicht auf die Stimmen von AfD, niederländischer Freiheitspartei, italienischer Lega, französischem Rassemblement National oder österreichischer FPÖ angewiesen sein wollen.

Bis vor fünf Jahren reichten noch die Stimmen der beiden großen Volksparteien, Christ- und Sozialdemokraten, um Gesetzesvorlagen zu billigen. In der aktuellen Amtsperiode waren zur Mehrheit mehr als zwei Parteien notwendig. Nach Juni könnten es mindestens vier sein. 

Der Autor ist politischer Chefreporter der Börsenzeitung in Brüssel.