EU-Sicherheitspolitik : Mehr Schein als Sein
Die EU wirbt für länderübergreifende Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie, um unabhängiger zu werden. Die Ziele gelten unter Experten als zu hoch gegriffen.
Bundeskanzler Olaf Scholz, Verteidigungsminister Boris Pistorius und die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen greifen beherzt zur Schaufel. Im Februar setzen die drei gemeinsam den Spatenstich in Unterlüß. Mitten in der Lüneburger Heide baut Rheinmetall dort eine neue Munitionsfabrik. Warum Frederiksen an dem Termin teilnimmt, ist unklar. Schließlich betont selbst Rheinmetall, dass das Werk zur Sicherung der strategischen Souveränität Deutschlands beitragen soll, also vor allem die Bundeswehr versorgt. In seiner Rede lobte Scholz hingegen die Zusammenarbeit mit den Dänen in Rüstungsfragen.
Einkaufsgemeinschaften der EU
Der Termin wirkt widersprüchlich - und ist damit in gewisser Weise ein Abbild des Zustands der europäischen Rüstungsindustrie. Die EU-Kommission will erreichen, dass bis 2030 mindestens 40 Prozent der Rüstungsgüter gemeinsam gekauft werden. Einkaufsgemeinschaften sollen höhere Mengen ordern und so im Bestfall günstige Preise aushandeln. Ebenso sollen bis dahin mindestens 50 Prozent der Ausgaben für Rüstungsgüter in die EU fließen. Bis 2035 soll der Anteil sogar auf 60 Prozent steigen. Diese beiden Vorhaben sollen die Souveränität der EU steigern und die Zusammenarbeit im Binnenmarkt fördern.
Kritischer Blick auf die Munition: Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen, Bundeskanzler Olaf Scholz, Rheinmetall-Chef Armin Papperger und Verteidigungsminister Boris Pistorius beim gemeinsamen Besuch des Hauptwerks von Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß.
Dass dieser Plan aufgeht, daran glaubt zumindest Christian Mölling nicht. Er ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und durch den Ukraine-Krieg zu einem der bekanntesten deutschen Experten für Sicherheitspolitik geworden. "Das erste Problem des Vorhabens ist bereits, dass gar keiner weiß, wie diese Prozentzahlen zustande kommen", sagt Mölling. "Das zweite, dass die EU bereits seit 1996 versucht, die Verteidigung als normalen Markt zu sehen. Aber das ist er einfach nicht."
Geld für die Forschung
Die EU hat schon oft versucht, die Rüstungsindustrie finanziell zu unterstützen: Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt, Dienstleistungen, Verteidigung und Raumfahrt, hatte Anfang dieses Jahres etwa einen EU-Verteidigungsfonds über 100 Milliarden Euro gefordert. Bekommen hat er 1,5 Milliarden Euro. "Das ist fast schon eine homöopathische Behandlung für einen Markt, der etwa 90 Milliarden Euro groß ist", sagt Mölling. Dazu kommt: Das Geld soll wohl vor allem in die Forschung fließen und nicht in dringend benötigte Produktionskapazitäten.
Seit Russlands Angriffskrieg ist der Rüstungsbedarf drastisch gestiegen. So schnell kommt die Angebotsseite nicht hinterher. Ein Grund dafür ist, dass die Rüstungsindustrie per Gesetz nur auf Vorrat produzieren darf, wenn die Bundesregierung eine auf Aufträgen basierende Ausnahmegenehmigung erteilt. Auch die sogenannte Skalierbarkeit ist ein schwieriges Thema in der Rüstungsindustrie. Große Stückzahlen sind derzeit von den Anbietern in der EU kaum zu bewerkstelligen.
Ein Geben und Nehmen
Philipp Schröder, Professor für internationale Wirtschaft an der Universität Aarhus, ist trotzdem optimistisch, dass mehr Kooperation auf EU-Ebene gelingen kann. Zugleich kennt er die besonderen Spielregeln des Sektors, die einen nachhaltigen Wandel erschweren: "Die Rüstungsindustrie lebt von Kompensationsgeschäften", sagt er. Rüstungsgeschäfte sind oft ein Geben und Nehmen. Bedeutet: Kauft etwa Dänemark Panzer von Rheinmetall, dann müsse Deutschland in der Regel im gleichen Wert Rüstungsgüter aus dem Nachbarland einkaufen, sagt Schröder.
Mehr Zusammenarbeit könnte den Austausch zwischen Ländern fördern. Den fragmentierten Rüstungsmarkt mahnte im März auch EU-Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager an. So würden oft fünf verschiedene Arten einer Waffe produziert, was zu einer ineffizienten Produktion und zur Verschwendung von Steuergeldern führe. Solche Konstruktionen gelte es abzubauen. Mölling nennt als Vorbild die militärische Luftfahrt: "Die Entwicklung in diesem Bereich ist so teuer geworden, dass hier schon eine Konsolidierung stattgefunden hat und erfolgreiche Kooperationen wie Airbus Defence entstanden sind."
Mehr Miteinander durch Dual-Use-Sektor
Möllings Forscherkollege Philipp Schröder aus Aarhus hat vor allem bei jungen Unternehmen und im Dual-Use-Sektor Hoffnung auf mehr Miteinander, also bei Produkten, die sowohl fürs Militär als auch für die Industrie oder Endkunden interessant sein können. Ein Beispiel dafür sind Drohnen. "Diese oft technik- und IT-lastigen Unternehmen sind global so groß geworden, dass man sie gar nicht einer Nation zuordnen kann", sagt der Ökonom. "Sie profitieren extrem vom aktuellen Boom der Rüstungsindustrie und haben damit ein Stück weit das Potential, alte und verkrustete Strukturen in der Branche einzureißen."
Eines der aufstrebenden Unternehmen dieser Art ist Helsing. Das Rüstungs-Startup verkauft Software und Steuertechnik mit Künstlicher Intelligenz. An dem 2021 gegründeten Münchner Unternehmen hat sich unter anderem die schwedische Saab-Gruppe beteiligt. Nach Medienberichten wurde das Startup zuletzt mit 1,7 Milliarden Euro bewertet. Damit ist Helsing das erste Rüstungs-Einhorn Europas, ein milliardenschwerer Neuling in der boomenden Branche.
Die Union scheitert im Bundestag mit ihrem Antrag zum Aufbau einer Truppengattung in der Bundeswehr für den Einsatz und die Abwehr von Drohnen.
Grünen-Politiker Hofreiter fordert einen schuldenfinanzierten EU-Fonds von bis zu 400 Milliarden Euro. Das Geld soll für die Ukraine und EU-Rüstungsprojekte fließen.
Der Wehrbericht offenbart Probleme bei Personal und Material. Die Wehrbeauftragte Högl bescheinigt der Truppe aber großen Einsatzwillen.
Helsing hat inzwischen Standorte in Deutschland, Frankreich und im Vereinigten Königreich, ist bei allen drei Ländern beim Militär unter Vertrag. Derzeit fokussiert sich die Arbeit des Startups auf die Ukraine. Und genau das war auch von Anfang an der Fokus Helsings, sagt Charlotte Weil von der Ahe, Director Communications and Government Affairs. "Helsing wurde schon bei der Gründung europäisch gedacht." Die Zusammenarbeit in Europa gestalte sich in diesem Gebiet allerdings weiterhin schwierig. "Dabei sollte es mittlerweile eine Binse sein, dass kein europäisches Land allein in der Lage sein wird, sich ohne Abstützung auf Partner selbst zu verteidigen."
Nationale Souveränität - nur eine Illusion?
In diese Kerbe schlägt auch Ökonom Schröder. "Wir haben uns mit dem Wunsch nach nationaler Souveränität eine Illusion geschaffen. Dabei ist es schlicht nicht möglich, dass eine kleine Nation alle Bereiche der Rüstung abdeckt oder große Technologiefelder wie die Überwachung überhaupt allein stemmen kann." Womöglich führt diese Erkenntnis ja dazu, Staatenlenker und Rüstungsindustrie von den Vorteilen der verstärkten Kooperation zu überzeugen. Dann gäbe es bald vielleicht auch mehr Besuche ausländischer Minister - und weniger Rätselraten.
Die Autorin ist Journalistin der Finanz- und Wirtschaftsredaktion wortwert.