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Langwierige Reform : Warum sich die EU mit einer Erweiterung schwer tut

Die Debatte in Brüssel stagniert, weil sich die Mitgliedstaaten nicht über die nötigen Reformen einig werden. Insbesondere kleine Staaten sperren sich.

24.05.2024
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4 Min

Bevor die EU weitere Mitglieder aufnehmen kann, muss sie selbst aufnahmefähig werden - das ist in Brüssel Konsens. Es steht schwarz auf weiß in der Erklärung von Granada, welche die Staats- und Regierungschefs im Oktober 2023 beschlossen haben. "Parallel" zu den Reformanstrengungen der Beitrittskandidaten "muss die Union für die notwendigen internen Grundlagen und Reformen sorgen", heißt es dort. Was aber heißt das konkret?

Foto: picture alliance / Panama Pictures

Mehr Mitglieder bedeuteten auch mehr Abgeordnete. Allein der Ukraine würden rund 50 Sitze zustehen, insgesamt müssten mehr als 80 neu verteilt werden. Wie das geschehen soll, ist unklar.

Darüber gehen die Ansichten weit auseinander, zwischen den Mitgliedstaaten und erst recht zwischen Rat, Parlament und Kommission. Schon der Versuch von Ratspräsident Charles Michel, den Reformprozess mit dem Datum 2030 zu versehen, fand nicht ausreichend Unterstützung. Am geringsten ist die Reformbereitschaft im Rat ausgeprägt. Vielen Mitgliedstaaten sitzt die letzte Vertragsreform noch in den Knochen.

Auch von Deutschland kommt keine Initiative

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte man sich für die große Variante entschieden und einen Konvent einberufen. Der sollte sogar eine "Verfassung" für Europa beschließen. Das Ergebnis scheiterte jedoch in Volksabstimmungen zweier Gründungsstaaten, Frankreich und den Niederlanden. Selbst der abgespeckte Vertrag von Lissabon brauchte zwei Anläufe, bevor ihm 2009 die Iren zustimmten. Der Appetit auf neue Referenden ist denkbar gering, zumal die Erfahrung lehrt, dass die Bürger dann nicht über die Substanz abstimmen, sondern über aktuelle Themen und Stimmungen. Deutschland und Frankreich haben in den vergangenen Jahren zwar eine gewisse Offenheit für Vertragsreformen signalisiert, jedoch keinerlei Initiativen ergriffen.

Dagegen war das Europäische Parlament in der abgelaufenen Legislaturperiode erpicht darauf, eine neue Reformdebatte zu starten, die zu einem Konvent führen sollte. Allerdings ist es ihm nie gelungen, eine politische Dynamik zu entfalten.

Erst kam der sogenannte Zukunftskonvent mit Bürgerforen nicht vom Fleck, dann zerstritten sich die Fraktionen über konkrete Vorschläge. Am Ende stimmte nur eine hauchdünne Mehrheit der Abgeordneten für einen Bericht zu Vertragsänderungen. Nach der Europawahl dürfte die Position des Parlaments noch schwächer werden, wenn die europaskeptischen und -feindlichen Kräfte weiter zulegen.

Zwei Optionen werden erwogen

In der Praxis fokussiert sich die Debatte deshalb auf Änderungen, die unterhalb der Schwelle von ratifikationspflichtigen Vertragsreformen bleiben. Dafür gibt es zwei Optionen. Zum einen könnten die Staaten notwendige Anpassungen in den Beitrittsverträgen festschreiben, die mit neuen Mitgliedern geschlossen werden. Diese Verträge müssen zwar auch ratifiziert werden, in der Regel allerdings nicht durch Referenden - eine wichtige Ausnahme ist Frankreich.

Zum anderen könnten die Staaten die Passerelle- oder Brückenklauseln im bestehenden Vertrag nutzen. Ihre tatsächliche Anwendung erfordert allerdings Einstimmigkeit im Rat. In Deutschland müssten Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittel-Mehrheit zustimmen.

Kleine Staaten fürchten, überstimmt zu werden

Diskutiert wird die Anwendung der Passerelle-Klausel vor allem in Bezug auf die Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen auf jene etwa 20 Prozent von Beschlüssen, die bisher einstimmig fallen müssen. Das betrifft die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, etwa Sanktionen, Erweiterungsverhandlungen, Eigenmittelbeschlüsse und die Harmonisierung von Steuern. Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande und einige weitere Staaten dringen auf eine Ausweitung, damit die Europäische Union handlungsfähiger wird, zumal wenn sie weiter wächst.

Doch sperren sich insbesondere kleine Staaten dagegen, weil sie fürchten, überstimmt zu werden. Lindern könnte man diese Sorgen, indem man Fragen, die den Kern des nationalen Interesses betreffen, ausnimmt - allerdings stellt sich die Frage, wie dies definiert werden soll.

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Außerdem könnte man Zwischenschritte im Erweiterungsprozess, wie die Eröffnung und Schließung einzelner Kapitel, mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, für die Eröffnung und den Abschluss der gesamten Verhandlungen aber weiter Einstimmigkeit festschreiben.Ein Sonderfall ist das Artikel-7-Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsland. Bisher kann ein Mitgliedsland ein anderes vor möglichen Sanktionen schützen. Das hat sich als dysfunktional erwiesen, doch ist kaum damit zu rechnen, dass Staaten ihr Veto aus der Hand geben.

Verkleinerung der Kommission gefordert

Eine weitere Reformbaustelle betrifft die Größe und Arbeitsfähigkeit der Institutionen. Die EU-Kommission sollte schon mit dem Vertrag von Lissabon so verkleinert werden, dass nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten einen Kommissar stellen. Das haben die Staaten jedoch 2009 außer Kraft gesetzt, um die Ratifizierung in Irland zu ermöglichen. Das Ergebnis ist eine Kommission mit koordinierenden Vizepräsidenten und Kommissaren mit unterschiedlich großen Geschäftsbereichen.

Diese Differenzierung müsste noch zunehmen, wenn die Union auf bis zu 36 Mitglieder wächst. Wenn aber nicht alle Stimmrecht haben sollen, müsste man doch wieder in den Vertrag eingreifen.

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Zur Debatte steht auch die Größe des EU-Parlaments, wenn neben den sechs Westbalkanstaaten die Ukraine, Moldau und Georgien aufgenommen werden. Vertraglich ist seine Größe auf 750 Mitglieder begrenzt; nach der nächsten Wahl werden es 720 sein.

Allein der Ukraine als fünftgrößtem Mitgliedsland würden rund 50 Sitze zustehen, insgesamt müssten mehr als 80 neu verteilt werden. Wie das geschehen soll, ist unklar. Soll es dabei bleiben, dass jeder Staat mindestens sechs Abgeordnete hat? Wird die Stimmenungleichheit weiter zunehmen? Schon jetzt entfallen auf einen deutschen Abgeordneten zehnmal mehr Stimmen als auf einen maltesischen.

Berlin dringt auf EU-Reform-Fahrplan

Die Bundesregierung dringt darauf, dass beim Europäischen Rat Ende Juni ein Fahrplan für EU-Reformen vereinbart wird. Doch bleibt abzuwarten, wie konkret der ausfällt. Erfahrene EU-Diplomaten rechnen damit, dass die Staaten auf Zeit spielen und unangenehme Entscheidungen so lange wie möglich vor sich herschieben werden. Das dürfte auch notwendige Reformen in der Agrar- und Kohäsionspolitik betreffen. Sie müssten im Zuge der nächsten finanziellen Vorausschau für die Jahre 2028 bis 2034 behandelt werden, wenn die Beitrittsperspektiven ernst gemeint sind. Vor der Wahl war aber nicht einmal die Kommission bereit, dieses heiße Eisen anzufassen. 

Der Autor ist Politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Brüssel.