Proteste in der Türkei : Erdoğan-Gegner hoffen auf die EU
Nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Imamoğlu fordern türkische Oppositionelle Beistand von der EU. Diese zeigte sich bislang aber zurückhaltend.
Die Massenproteste gegen die Inhaftierung des Oppositionspolitikers und Präsidentschaftskandidaten Ekrem Imamoğlu in der Türkei konfrontieren die EU mit der Frage, wie sie mit autokratischen Staaten umgehen soll, die sie als starke Partner braucht.
Europa sei mehr denn je auf die Türkei angewiesen, sagt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Er ließ Imamoğlu ins Gefängnis werfen, sieht sein Land aber wegen der transatlantischen Spannungen unter US-Präsident Donald Trump, der Lage im Ukraine-Krieg und den Verwerfungen im Nahen Osten international aufgewertet. Europa müsse sich schon aus eigenem Interesse auf die Seite der Opposition stellen, sagen türkische Erdoğan-Gegner. Wie sich die EU entscheiden wird, ist offen.
Türkischer Präsident ließ seinen schärfsten Konkurrenten verhaften
Bisher kann Erdoğan mit den sehr zurückhaltenden Reaktionen aus der EU auf Imamoğlus Festnahme am 19. März zufrieden sein. Obwohl die nächsten Wahlen in der Türkei erst in drei Jahren anstehen, hat Erdoğan den populären Istanbuler Bürgermeister absetzen und inhaftieren lassen. In Umfragen lag Imamoğlu zuletzt vor dem amtierenden Präsidenten.

Nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu halten die Proteste an.
Die Brüsseler Kommission beließ es bei der Forderung, Ankara möge die rechtsstaatlichen Regeln einhalten. Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nannte es ein „sehr, sehr schlechtes Zeichen“, dass der aussichtsreichste Herausforderer von Erdoğan bei der nächsten Präsidentenwahl per Festnahme aus dem Spiel genommen werde.
Türkei und EU haben ein Interesse an besseren Beziehungen
In ihrem jüngsten Bericht zur Türkei hatte die EU den Einfluss von Erdoğans Regierung auf die Justiz kritisiert, doch nach Imamoğlus Inhaftierung blieben scharfe Rügen aus Brüssel aus. Höhepunkt des Protestes aus der EU war die Entscheidung von Erweiterungskommissarin Marta Kos, ihre Teilnahme an einer Konferenz der türkischen Regierung in Antalya abzusagen. Die EU will Erdoğan nicht verärgern.
Sowohl Europa als auch die Türkei haben ein Interesse an besseren Beziehungen. Die EU hatte der Türkei voriges Jahr mehr Geld für die Versorgung syrischer Flüchtlinge versprochen, denn die Türkei ist seit dem Flüchtlingsvertrag von 2016 der Türsteher Europas für die Migration. Beim Streben nach mehr europäischer Eigenständigkeit in der Sicherheitspolitik nach Trumps Abkehr vom bedingungslosen Schutzversprechen der USA spielt die Türkei als Land mit der zweitstärksten Nato-Streitmacht und einer florierenden Rüstungsindustrie ebenfalls eine große Rolle. Erdoğan vermittelt im Ukraine-Krieg und baut seit dem Umsturz in Syrien den Einfluss der Türkei im Nahen Osten aus. Umgekehrt braucht Erdoğan die Europäer als Handelspartner.
Nur eine demokratische Türkei ist laut Opposition der richtige Partner für die EU
Die türkische Opposition weiß, wie wichtig ihr Land für Europa ist. Die Türkei sei ein Schlüsselakteur im Welthandel, bei Sicherheitsfragen und in der internationalen Diplomatie, schrieb Imamoğlu aus der Gefängniszelle in einem Beitrag für die "Financial Times".
Aber Imamoğlu zieht aus diesen Tatsachen ganz andere Schlussfolgerungen. Nicht ein autokratischer Präsident wie Erdoğan sei der richtige Partner für die EU, sondern eine demokratische Türkei, meint er. Wenn die EU mehr Stabilität wolle, brauche sie mehr Demokratie in der Türkei, nicht weniger: „Ein Regime, das seine Jugend zum Schweigen bringt, Widerspruch unterdrückt und mit der Angst regiert, wird die regionalen Turbulenzen nur noch weiter verstärken.“
„Wenn Europa mit dieser Leisetreterei weitermacht, wird es unweigerlich die Autokratie in der Türkei weiter ermutigen“
Unter dem Begriff der „autokratischen Stabilität“ diskutieren Experten schon lange die Frage, ob sich der Westen auf undemokratische Partner verlassen kann oder sollte. Dafür spricht, dass solche Staaten berechenbar erscheinen – Erdoğan regiert die Türkei seit mehr als 20 Jahren. Die Gegenargumente lauten, dass Autokratien weniger verlässlich sind als Demokratien, weil sie innenpolitische Konflikte unterdrücken, die irgendwann offen ausbrechen, und weil Autokraten aus Eigeninteresse schnell die Seiten wechseln können.
Kulturstaatsministerin Roth fordert klare Strategie im Umgang mit Erdoğan
Hunderttausende Türken sind seit Imamoğlus Festnahme zu Protestkundgebungen auf die Straßen gegangen. Özgür Özel, der Vorsitzende von Imamoğlus Partei CHP, nennt Erdoğans Regierung eine „Junta“. Im Umgang mit der Türkei tendiert Europa dennoch bisher dazu, sich mit Erdoğan zu arrangieren, nicht nur im Fall Imamoğlu.
Der Europarat verzichtet auf ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei, obwohl sich Erdoğans Regierung beharrlich weigert, der Anweisung des Europäischen Menschenrechtsgerichtes zur Freilassung politischer Gefangener zu folgen.
Damit diskreditiere sich der Europarat selbst, sagte die scheidende Kulturstaatsministerin Claudia Roth jetzt bei einem Besuch in Istanbul. Türkische Oppositionelle und Europa-Anhänger sehen das mit Entsetzen, wie Roth, eine langjährige Kennerin des Landes, bei ihren Gesprächen beobachtet hat. „Es gibt eine große Enttäuschung über die EU. Die Bundesregierung muss sich entscheiden: Was ist unser Interesse? Ist eine starke Türkei eine autoritär regierte Türkei oder eine demokratische Türkei? Deutschland muss eine klare Strategie entwickeln.“
„Was in der Türkei geschieht, wird nicht auf die Türkei beschränkt bleiben.“
Ohne eine solche Strategie werde Erdoğan gestärkt, meint Ömer Murat, ein ehemaliger türkischer Diplomat im deutschen Exil. „Wenn Europa mit dieser Leisetreterei weitermacht, wird es unweigerlich die Autokratie in der Türkei weiter ermutigen“, sagte Murat dem Parlament.
Türkische Oppositionelle wollen im Mai nach Deutschland reisen
Murat Somer, Politologe an der Istanbuler Özyegin-Universität, sieht zudem ein Eigeninteresse der EU an einer Parteinahme für die Erdoğan-Gegner. Der Westen dürfe nicht den Fehler machen, den Fall Imamoğlu als rein türkisches Problem zu betrachten, sagte Somer dem Parlament. Der Konflikt in der Türkei stehe stellvertretend für den weltweiten Kampf zwischen Demokratien und „oligarchisch-rechtsradikalen“ Systemen. „Was in der Türkei geschieht, wird nicht auf die Türkei beschränkt bleiben.“
Türkische Oppositionelle setzen alles daran, die Europäer von diesem Zusammenhang zu überzeugen. Eine Delegation der CHP will im Mai nach Deutschland reisen, um bei der neuen Bundesregierung und dem neuen Bundestag um Unterstützung zu werben. Imamoğlu ist trotz seiner Inhaftierung überzeugt, dass sich Erdoğan am Ende nicht durchsetzen wird. Der globale Aufschwung der Autokraten habe in der Türkei mit Erdoğan begonnen, schrieb er. „Ich glaube, die Gegenbewegung beginnt ebenfalls hier.“
Die Autorin ist freie Korrespondentin in der Türkei.
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