Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers : Das Machtwort
Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in Theorie und Praxis.
Es ist einer dieser Sätze im Grundgesetz, an dem Verfassungsrechtler die starke Stellung des Bundeskanzlers im Regierungssystem Deutschlands festmachen: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung", heißt es in Artikel 65 des Grundgesetzes. Auch in Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung ist festgehalten, dass der Kanzler "die Richtlinien der inneren und äußeren Politik" bestimmt. Aufgrund dieser Richtlinienkompetenz entschied Bundeskanzler Scholz (SPD) in der vergangenen Woche per schriftlicher Anweisung den Streit über die Laufzeit der Atomkraftwerke.
Ein zweischneidiges Schwert
So machtvoll die Richtlinienkompetenz des Kanzlers erscheinen mag, so eng limitiert und zweischneidig ist sie zugleich. Sie gilt nur innerhalb der Bundesregierung, nicht aber gegenüber dem Bundestag. Will ein Kanzler dort seinen Kurs gegen Widerstände durchsetzen, bleibt ihm nur der Weg der Vertrauensfrage, die er auch mit einer Sachentscheidung verknüpfen kann. Bislang beschritt lediglich Gerhard Schröder (SPD) diesen Weg, als er die Entscheidung über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage verband. Die Gegner des Einsatzes in der SPD und bei den Grünen mussten sich entscheiden, ob sie wegen des Einsatzes das Scheitern der Koalition und Neuwahlen riskieren wollten.
Scholz' Gebrauch der Richtlinienkompetenz ist durchaus bemerkenswert. Schriftlich machte vor ihm nur Konrad Adenauer (CDU) davon Gebrauch, als er beispielsweise seinen Außenminister Heinrich von Brentano (CDU) unter Verweis auf Artikel 65 anwies, "alle Gespräche und jede Verlautbarung, die meinen Ihnen bekannten Richtlinien über die Behandlung der Ost-West-Frage widersprechen, zu unterlassen". Angela Merkel (CDU) ließ 2018 Innenminister Horst Seehofer von der Schwesterpartei CSU lediglich mündlich als Warnschuss wissen, dass die Frage der Grenzöffnung für Flüchtlinge unter ihre Richtlinienkompetenz falle.
Die öffentliche Anwendung der Richtlinienkompetenz gegenüber einem Minister eines Koalitionspartners ist durchaus heikel. Dies kann auch zum Bruch der Koalition führen. Helmut Schmidt (SPD) betonte 1982, er habe nie von der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und lieber nach "zumutbaren Kompromissen" gesucht. Doch Scholz' Machtwort diente eher der Gesichtswahrung für seine streitenden Minister der Grünen und der FDP gegenüber ihrer Parteibasis.