
Alterspräsident des Bundestages : Dem das erste Wort zukommt
Seit 2017 wird die erste Sitzung eines neuen Bundestages stets von dessen dienstältestem Mitglied eröffnet. Am 25. März fällt diese Aufgabe Gregor Gysi (Linke) zu.
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Gregor Gysi ist es „eine Ehre und eine Verantwortung“: Nach fast 31-jähriger Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag wird der Linken-Abgeordnete am kommenden Dienstag als Alterspräsident des neu gewählten Parlaments dessen Konstituierende Sitzung eröffnen. Dass er dabei „die erste und letzte Rede meines Lebens als Alterspräsident ohne Zeitbegrenzung halten“ kann, ist für den 77-Jährigen „schon etwas Besonderes“. Es sei „wirklich angenehm, nicht ständig auf die Uhr schauen und nach zwei Minuten abbrechen zu müssen“, sagte er jüngst im Gespräch mit dieser Zeitung, um sogleich beruhigend hinzuzufügen: „Aber keine Sorge, ich werde das nicht missbrauchen.“
Adenauer reichten als Alterspräsident ganze vier Sätze
So kurz wie sein Vorgänger Konrad Adenauer (CDU) als Alterspräsident des Bundestages dürfte sich Gysi gleichwohl nicht fassen; in Erinnerung geblieben sind von den damaligen Ausführungen des Gründungskanzlers der Bundesrepublik vor allem seine einleitenden Worte: "Nach der Übung dieses Hauses eröffnet bei Beginn einer neuen Legislaturperiode das älteste Mitglied, das im Saale ist, die Session", erläuterte er am 19. Oktober 1965 zu Beginn der ersten Sitzung des damals neuen Bundestages die Geschäftsgrundlage.
Er sei am 5. Januar 1876 geboren, fügte der damals 89-jährige Ex-Kanzler hinzu, erkundigte sich der Form halber, ob ein älteres Mitglied anwesend sei, und stellte mit der ihm eigenen Bescheidenheit zufrieden fest, dass er "ganz offenbar einzig" sei. Für die eigentliche Ansprache reichten Adenauer – nicht ohne die Abgeordneten an die "Gemeinsamkeit ihrer Verpflichtungen" zu erinnern – dann ganze vier Sätze.
Agitatorische Reden zu Weimarer Zeiten
Vorrangigste Aufgabe der Alterspräsidenten ist es, nach einer Eröffnungsrede die Wahl des neuen Parlamentspräsidenten zu leiten; eine Tradition nicht nur der deutschen Parlamentsgeschichte. Zu Weimarer Zeiten bescherte sie dem Reichstag nach den beiden Wahlen von 1932 mit Clara Zetkin (KPD) und Karl Litzmann (NSDAP) zwei Exponenten der äußersten politischen Ränder als Alterspräsidenten, die dies zu entsprechend agitatorischen Ansprachen nutzten: Hoffte die eine am 30. August, noch "das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongress Sowjetdeutschlands zu eröffnen", plädierte der andere am 6. Dezember für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.
2017 änderte der Bundestag die Alterspräsidenten-Regelung
Bis zu der 2017 begonnenen Legislaturperiode war die jeweils erste Sitzung eines neuen Bundestages stets von dessen an Lebensjahren ältesten Mitglied eröffnet worden – oder, wenn dieses die Würde des Alterspräsidenten ablehnte, das nächstälteste. Würde dies noch heute gelten, käme bei der Konstituierung des neuen Bundestags vor Gysi der 84 Jahre alte AfD-Abgeordnete Alexander Gauland zum Zuge.
Doch im Juni 2017, kurz vor Ablauf der damaligen Legislaturperiode, beschloss der Bundestag auf Anregung seines damaligen Präsidenten Norbert Lammert (CDU) eine Änderung seiner Geschäftsordnung. Nach der mit der Koalitionsmehrheit von Union und SPD bei Enthaltung der Linken gegen die Stimmen der Grünen angenommenen Neuregelung wird der Bundestag seitdem nicht mehr von seinem an Lebensjahren, sondern von dem an Mandatsjahren ältesten Mitglied eröffnet.
Hintergrund war damals die Befürchtung, dass nach einem Einzug der AfD bei der anstehenden Parlamentswahl deren 77-jähriger Abgeordneter Wilhelm von Gottberg als Alterspräsident die erste Sitzung des Parlaments eröffnen könnte. Dabei führten vor allem Gottbergs umstrittene Äußerungen zum Holocaust zu der Neuerung. Mit dieser, so hieß es in der Beschlussvorlage des Geschäftsordnungsausschusses, "könne sichergestellt werden, dass ein Mitglied die erste Sitzung des neugewählten Bundestages leite, das über ausreichende parlamentarische Erfahrungen verfüge".
Schäuble war dienstältestes Mitglied aller Nationalparlamente seit 1848
Damit fiel die Würde des Alterspräsidenten des 19. Bundestages erstmals Wolfgang Schäuble (CDU) mit seinen damals 45 Abgeordnetenjahren zu, der sie aber aufgrund seiner Nominierung für die Lammert-Nachfolge an Hermann Otto Solms (FDP) mit immerhin 33 Jahren Parlamentserfahrung weitergab. Schäuble, seit 1972 stets direkt gewählter Abgeordneter und damit dienstältestes aller Mitglieder deutscher Nationalparlamente seit 1848, eröffnete dann nach vierjähriger Amtszeit an der Spitze des Bundestages im Jahr 2021 als Alterspräsident die nunmehr abgelaufene Wahlperiode, in deren Verlauf er Ende 2023 im Alter von 81 Jahren verstarb.
Auch andere Parlamente verfahren nach der Neuregelung
Mit der Regelung von 2017 steht der Bundestag keineswegs allein. Im Schweizer Nationalrat etwa ist Alterspräsident seit 2003 das Mitglied mit der längsten ununterbrochenen Amtsdauer; die selbe Definition gilt heute im britischen Unterhaus für den Jahrhunderte alten Titel des "Father of the House"; in beiden Fällen obliegt auch ihnen die Sitzungsleitung bei der Wahl des neuen Parlamentspräsidenten.
Das Europäische Parlament entzog diese Aufgabe 2009 seinem an Lebensjahren ältesten Mitglied, als Frankreichs Rechtsaußen Jean-Marie le Pen als Alterspräsident zu erwarten war, und übertrug sie dem scheidenden Präsidenten beziehungsweise seinen Vize; sind diese verhindert, fällt sie dem Mitglied mit der längsten Mandatszeit zu.
Löbe verkörperte parlamentarische Kontinuität zur ersten deutschen Republik
Dabei erschöpft sich die Funktion des Alterspräsidenten nicht nur im Formalen, sondern erfüllt auch eine repräsentative Aufgabe, so wie die konstituierende Sitzung eines neu gewählten Parlaments stets ein aus dem demokratischen Alltag herausragendes Datum darstellt.
Parlamentarische Kontinuität zur ersten deutschen Republik verkörperte dabei 1949 als erster Alterspräsident des Bundestages der Sozialdemokrat Paul Löbe, der zu Weimarer Zeiten fast durchgängig das Amt des Reichstagspräsidenten bekleidet hatte. Verbindende Worte des Alterspräsidenten und der Verweis auf die gemeinsame Verantwortung der Parlamentarier können nach hitzigen Wahlkämpfen zu einem konstruktiven Arbeitsklima im Bundestag beitragen.
Unionsfraktion verweigerte dem Alterspräsidenten Heym den Applaus
In dessen Geschichte stieß der davon ausgehende Versöhnungsgedanke indes an seine Grenzen, etwa wenn sich in den Alterspräsidenten die schmerzhaften Brüche deutscher Geschichte spiegelten. Als 1994 der 81-jährige Stefan Heym von der PDS-Gruppe die Konstituierende Sitzung eröffnete und sich alle wie üblich erhoben, blieben die Unionsabgeordneten demonstrativ sitzen und verweigerten dem parteilosen Schriftsteller aus der ehemaligen DDR mit Ausnahme der langjährigen Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) nach der Rede den Applaus.
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1983 nahm der Grünen-Aspirant auf die Alterspräsidentschaft das Mandat nicht an
Auf andere Weise hatte schon elf Jahre zuvor die Vergangenheit eines Anwärters auf die Alterspräsidenten-Würde für Aufregung gesorgt, als die frisch ins Parlament eingezogenen Grünen 1983 mit Werner Vogel den ältesten der gewählten Abgeordneten stellten. Als herauskam, dass Vogel in den 1930er Jahren in die SA und die NSDAP eingetreten war, nahm er sein Mandat erst gar nicht an. Statt seiner eröffnete erstmals Willy Brandt (SPD) als dritter Ex-Kanzler nach Adenauer und Ludwig Erhard eine Legislaturperiode.
Willy Brandt eröffnete gleich drei Legislaturperioden des Bundestages
Auch der 1987 folgende 11. Bundestag sowie 1990 der erste gesamtdeutsche Bundestag wurden von Brandt eröffnet, der diese Funktion damit unter den 14 bisherigen Alterspräsidentinnen und -präsidenten am häufigsten wahrnahm. Je zweimal fungierten die FDP-Abgeordnete Marie-Elisabeth Lüders (1953 und 1957), Altkanzler Ludwig Erhard (1972 und 1976) sowie die Parlamentarier Otto Schily (SPD, 2002 und 2005) und Heinz Riesenhuber (CDU, 2009 und 2013) als Alterspräsident.
Am häufigsten darauf verzichtet hatte wiederum Konrad Adenauer, der als amtierender Regierungschef die Würde des Alterspräsidenten sowohl 1953 wie 1957 und auch 1961 weiterreichte, bevor er dann als Ex-Kanzler 1965 noch eine neue Legislaturperiode des Bundestages eröffnete.