Interview über Lage von Kindern in Deutschland : "Wir müssen die Familien wieder stark machen"
Die kinderpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Sarah Lahrkamp, sieht Familien in einer schwierigen Lage. Sie fordert mehr Programme für Kinder und Jugendliche.
Frau Lahrkamp, erst zwei Jahre Pandemie, dann Wirtschaftskrise - wie gut geht es Kindern und Familien derzeit in Deutschland?
Sarah Lahrkamp: Viele sind in einer schwierigen Situation. Zwar haben wir in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei der Kinder- und Familienförderung gemacht, etwa durch die Erhöhung des Kindergeldes oder die Einführung des Sofortzuschlags. Aber jetzt stehen wir vor neuen Herausforderungen und müssen die Familien wieder stark machen.
Mit welchen Problemen kämpfen sie?
Sarah Lahrkamp: Ich habe selbst erlebt, wie schwierig das war in der Pandemie: im Home Office arbeiten mit Baby auf dem Arm und drei weiteren kleinen Kindern zu Hause. Wie schlimm das auch für einige Kinder war, zeigt der Bericht der Arbeitsgruppe von Gesundheits- und Familienministerium. Danach sind die seelischen und körperlichen Belastungen von Heranwachsenden auch jetzt noch weit größer als vor der Pandemie. Viele haben mit Depressionen, Angststörungen oder Adipositas aufgrund des Bewegungsmangels zu tun. Und dann sind da natürlich die Bildungsrückstände nach den langen Schulschließungen. Wir müssen verhindern, dass die Kinder all das mit ins Erwachsenenleben schleppen.
Sarah Lahrkamp sitzt seit 2021 für die SPD im Bundestag und ist dort Mitglied im Familienausschuss und in der Kinderkommission.
Und wie?
Wir haben ja schon viel gemacht. Das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona" mit Angeboten für Sport, Freizeit- und Ferienaktivitäten und zusätzlichen Förderangeboten für Kinder mit Lernrückständen war ein sehr gutes Programm. Das höre ich im Wahlkreis immer wieder. Jetzt haben wir das Programm für Bewegung, Kultur und Gesundheit. Aber das reicht alles noch nicht. Wir müssen das gesamte System rund um Kinder und Jugendliche stärken: Schulen, Kitas, den Bereich der Kindergesundheit, die Jugend- und Familienhilfe.
Schon der Kita-Ausbau scheitert daran, dass fast hunderttausend Erzieherinnen und Erzieher fehlen - Tendenz steigend. Wie sollen Strukturen wachsen, wenn überall Personal fehlt?
Das ist natürlich ein Problem. Wir wollen deshalb unter anderem die Ausbildung von Erziehenden verbessern und stärker fördern. Außerdem wollen wir mehr Möglichkeiten schaffen, sich berufsbegleitend ausbilden zu lassen, um dann als Quereinsteiger in Kitas und Schulen zu arbeiten. Priorität hat dabei der Kinderschutz: Wir brauchen nicht nur mehr, sondern auch mehr qualitativ gute Betreuung für unsere Kinder.
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm oder von Armut gefährdet, obwohl der Staat mehr als hundert Milliarden Euro im Jahr für Familien ausgibt. Wie kann das sein?
Die wirtschaftliche Situation vieler Familien hat sich durch Pandemie und Inflation massiv verschlechtert. Und das viele Geld, das wir, wie Sie richtig anmerken, in Familien stecken, kommt oft nicht an. Den Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien beantragen beispielsweise rund 65 Prozent der Anspruchsberechtigten nicht, weil sie ihn nicht kennen oder nicht wissen, dass er ihnen zusteht. Genauso ist es mit den Leistungen für Bildung und Teilhabe. Damit Kinder das Geld bekommen, das sie brauchen, wollen wir ab 1. Januar 2025 die familienpolitischen Leistungen in der Kindergrundsicherung bündeln und die Antragstellung vereinfachen.
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) wollte ursprünglich zwölf Milliarden Euro jährlich dafür ausgeben. Im Haushalt sind ab 2025 aber nur zwei Milliarden Euro veranschlagt. Wie soll das reichen?
Sarah Lahrkamp: Wie viel die Kindergrundsicherung tatsächlich kosten wird, können wir erst wissen, wenn die abgestimmten Eckpunkte vorliegen. Für mich ist klar, dass Armutsbekämpfung immer Geld kostet. Denn es geht ja auch darum, Kindern Teilhabe zu ermöglichen. Sie sollen sich auch mal ein Eis kaufen oder im Fußballverein spielen können. Dafür ist es wichtig, dass das Geld am Ende auch wirklich bei ihnen ankommt.
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bekommen die Menschen hierzulande weniger Kinder, als sie sich wünschen. Vor allem Frauen sorgen sich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Problem ist bekannt, wo bleibt die Lösung?
Sarah Lahrkamp: Noch immer ist es so, dass sich vor allem die Frauen um die Kinder kümmern und dafür im Job kürzer treten. Es ist ok, wenn sie das wollen, aber sie sollten in diesem System nicht gefangen sein. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag auf verschiedene Maßnahmen verständigt. So verlängern wir den elternzeitbedingten Kündigungsschutz und investieren als Bund in 90.000 weitere Kitaplätze. Ab 2026 führen wir schrittweise einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ein. Wir wollen außerdem die Elterngeldbeträge anpassen und dynamisch gestalten. Die "Familienstartzeit" soll es dem Partner oder der Partnerin der Frau ermöglichen, nach der Geburt zwei Wochen bezahlt frei zu nehmen.
Frankreich gilt als Land der kinderreichen Familien, in dem die Mütter meistens in Vollzeit arbeiten. Die Kinder werden dort ganztags betreut und Familien mit drei und mehr Kindern bekommen viel Unterstützung. Warum nehmen wir uns daran nicht ein Beispiel?
Sarah Lahrkamp: Wir müssen das Rad hierzulande nicht neu erfinden. Wie eine Familie lebt und wie viele Kinder jemand bekommt, ist Privatsache, das sollte der Staat nicht vorgeben. Unser Ziel ist es, jede Familie so gut wie möglich zu unterstützen.
Während der Pandemie wurden bei uns - auch anders als in Frankreich - Kitas und Schulen monatelang geschlossen, die Folgen haben Sie benannt. Was entgegnen Sie denen, die sagen: Die Politik zielt vor allem auf die Älteren und hat die junge Generation zu wenig im Blick?
Sarah Lahrkamp: In der konkreten Situation der Pandemie galt es abzuwägen zwischen den Interessen der Kinder und der körperlichen Unversehrtheit. Insgesamt, denke ich, werden die Interessen von Kindern heute viel stärker berücksichtigt als früher. Zum Beispiel gibt es in den Kommunen immer mehr Jugendparlamente - eine tolle Möglichkeit, sich einzubringen und auszuprobieren. Auch in der Kinderkommission des Bundestages, der Kiko, tauschen wir uns regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen aus.
Aber ihre Ideen und Wünsche können sie trotzdem nicht direkt in den politischen Prozess einbringen.
Sarah Lahrkamp: Das beklagen viele Kinder und Jugendliche in den Gesprächen mit uns. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir noch mehr Beteiligungsmöglichkeiten schaffen. Eine sehr gute Möglichkeit wäre es, das Wahlalter endlich auch auf Bundesebene auf 16 Jahre absenken. In einigen Bundesländern ist das Wählen ab 16 längst Realität, auf Bundesebene fehlen uns für die Grundgesetzänderung die Stimmen der Unionsfraktion.
Kinder sind für den Arche-Gründer Bernd Siggelkow die wichtigste und größte Ressource unseres Landes. Der Staat tut aus seiner Sicht zu wenig, um sie zu fördern.
In Deutschland fehlen rund 383.000 Kitaplätze. Wo es Plätze gibt, wie in Mecklenburg-Vorpommern, mangelt es oft an Personal für die Kinderbetreuung.
Mehr Freiheit, weniger Autorität, mehr Zuneigung, weniger Strafen: Die Eltern-Kind-Beziehung hat sich im Laufe der Zeit erheblich gewandelt.
An ihr scheitert bisher auch die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Kinder sind doch bereits Träger von Grundrechten, was soll das ändern?
Sarah Lahrkamp: Rechte können besser eingefordert und eingeklagt werden, wenn sie Verfassungsrang haben. Verankert würde nicht nur das Recht von Kindern auf mehr Mitbestimmung bei staatlichen Entscheidungen. Politik und Verwaltungen müssten in sämtlichen Bereichen und bei allen Entscheidungen die Auswirkungen auf Kinder berücksichtigen - ob beim Bau von Spielplätzen, der Planung von Straßen oder beim Klimaschutz.
Kritiker sehen damit die Elternrechte zugunsten des Staates eingeschränkt. Wie sehen Sie das als vierfache Mutter?
Sarah Lahrkamp: Wenn ich mit meiner Sechsjährigen auf dem Fahrrad unterwegs bin, habe ich selbst großes Interesse daran, dass bei Städteplanung und Straßenbau auch die Verkehrssicherheit von Kindern in den Blick genommen wird. Ich fühle mich daher als Mutter überhaupt nicht in meinen Kompetenzen beschnitten, wenn staatliche Maßnahmen mit Blick auf Kinder besser abgewogen werden, im Gegenteil: Ich fühle mich gestärkt.