Verfassung im Wandel : Baustelle Grundgesetz
67 Mal wurde die deutsche Verfassung geändert. Etwa jeder zweite ihrer Artikel ist heute anders, als vom Parlamentarischen Rat beschlossen.
Die von der schwarz-gelben Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) 1993 angegangene Asylrechtsreform gehört zu den strittigsten Grundgesetzänderungen der vergangenen Jahrzehnte.
Die letzte Änderung ist keine fünf Monate her: Im Dezember beschlossen Bundestag und Bundesrat mit der Änderung von Artikel 82 des Grundgesetzes, dass Gesetze und Verordnungen künftig ausschließlich online im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Das Änderungsgesetz trat am 24. Dezember in Kraft - und ist damit die 67. Änderung des Grundgesetzes in seiner gut 74-jährigen Geschichte.
Ein überraschend hoher Wert - auch international, weiß die Politikwissenschaftlerin Astrid Lorenz: "Gemessen an seinem Alter ist das Grundgesetz eine Verfassung, die vergleichsweise oft geändert wurde", sagt die Professorin von der Universität Leipzig, die sich eingehend mit dem Wandel der deutschen Verfassung beschäftigt hat.
Ein Wandel trotz hoher Hürden
Dabei sind es durchaus hohe Hürden, welche die Väter und Mütter des Grundgesetzes für den Fall einer Verfassungsänderung vorgesehen haben: Für jede Änderung oder Ergänzung im Wortlaut des wichtigsten deutschen Rechtsdokuments braucht es eine "Supermajorität", eine Zweidrittelmehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat, so schreibt es Artikel 79 vor.
Manches darf auch gar nicht angetastet werden. Die sogenannte Ewigkeitsklausel in Artikel 79, Absatz 3 setzt klare Grenzen: "Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Der Kern der Verfassung, ihre obersten Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat und vor allem die Garantie der Menschenwürde sind also von Änderungen ausgenommen.
Der Kern der Verfassung ist unveränderbar
Alle anderen Bestimmungen sind veränderbar. Und von dieser Möglichkeit hat die Politik seit 1949 immer wieder Gebrauch gemacht: "Es gab Phasen, in denen das Grundgesetz recht häufig geändert und Phasen, in denen es kaum angefasst wurde", so Lorenz. Keine Änderungen gab es in der achten, neunten und 15. Wahlperiode des Bundestages.
Die weitaus meisten Änderungen, nämlich zwölf, erfuhr die deutsche Verfassung in der fünften Wahlperiode, in der Zeit der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969. Günstige Mehrheitsverhältnisse seien aber nie systematisch ausgenutzt worden. Mit den Änderungen in den sechziger Jahren habe man Fragen, die seit den Anfängen der Bundesrepublik diskutiert worden waren, nachträglich geklärt, sagt Lorenz etwa mit Blick auf den Länderfinanzausgleich. "Das ist ein Klassiker unter den Änderungen."
Der am häufigsten geänderte ist der Artikel 74
Überhaupt betreffe das Gros der Anpassungen das politische "Alltagsgeschäft", so die Professorin für das politische System Deutschlands: "Bei der weit überwiegenden Zahl der Grundgesetzänderungen geht es um staatsorganisatorische Fragen, die auf eine Feinjustierung des politischen Prozesses und der Kompetenzverteilung zwischen den politischen Akteuren zielen." Laut einer Auswertung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags wurde kein anderer Artikel häufiger geändert als Artikel 74, der die Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung definiert. Auch die Artikel 106 und 107 aus der Finanzverfassung wurden vergleichsweise oft verändert.
Der Bundesstaat sei eine "ewige verfassungspolitische Baustelle", stellt Lorenz im Aufsatz "Ordnung und Wandel des Grundgesetzes" fest. Auch die wohl größte Verfassungsreform seit 1949, die Föderalismusreform 2006, zielte darauf, die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu entflechten. Was auf manche wie ein "Reparieren des Grundgesetzes " wirke, habe auch etwas Positives, so Lorenz: "Es entsteht über Parteigrenzen hinweg ein für das Gemeinwesen wichtiges 'Wir-Gefühl' der Entscheidungsträger."
Ein Einschnitt war die Gründung der Bundeswehr
Anders jedoch bei den Änderungen, die Grundrechte, betrafen: Diese seien zwar selten vorgekommen, aber äußerst umstritten gewesen und oft sehr ausführlich geregelt worden, erklärt Lorenz.
Ein Einschnitt war zunächst die Gründung der Bundeswehr 1955, für die im März 1956 eigens eine "Wehrverfassung" im Grundgesetz verankert wurde. Zentrale Norm ist Artikel 87a, in dessen ersten Satz es heißt: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." So kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lehnten viele Deutsche jedoch eine Wiederbewaffnung ab. Die Frage führte zu Debatten, die auch nach der Grundgesetzänderung nicht beendet waren.
Die Notstandsregelungen, die dem Staat Instrumente zur Abwehr innerer und äußerer Notlagen an die Hand gaben, führten 1968 ebenfalls zu Protesten. Insbesondere Studenten und Gewerkschaften liefen Sturm, weil sie bürgerliche Rechte und Freiheiten gefährdet sahen. Um einen Kompromiss in der Großen Koalition zu ermöglichen, wurde Artikel 20 um ein neues Widerstandsrecht ergänzt. Insgesamt wurden 28 Grundgesetzartikel geändert.
Heftige Kritik am Asylkompromiss 1993
Der sogenannte Asylkompromiss, der 1993 unter dem Druck zunehmender rassistischer Anschläge wie in Mölln und Rostock-Lichtenhagen im Bundestag geschlossen wurde, löste ebenfalls heftige Kritik aus. Zum ersten Mal wurde ein Grundrecht, das Recht auf Asyl, deutlich eingeschränkt.
Kritik wurde später auch an der Formulierung laut: Hieß es bislang in Artikel 16 kurz und bündig: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", kommt die Einschränkung in Artikel 16a wortreich daher: Sie sei "70-mal so lang", kritisierte etwa der Verfassungsrechtler Dieter Grimm einmal. So formuliere man Verwaltungsverordnungen, aber keine Grundrechte. Es blieb nicht die einzige Grundrechtsänderung: Auch Artikel 13, der die "Unverletzlichkeit der Wohnung" garantiert, wurde 1998 nach erheblichen Diskussionen für den "Großen Lauschangriff" um vier Absätze ergänzt.
Neue Staatsziele
Solchen Einschränkungen von Grundrechtsgarantien stehen Ergänzungen im Bereich der Staatsziele gegenüber, mit denen Absichten und Ziele des politischen Gemeinwesens zum Verfassungsauftrag erklärt werden. 1993 wurde so die Gleichberechtigung von Mann und Frau durch eine Ergänzung des bisherigen Gleichstellungsgebots in Artikel 3, Absatz 2 zur Staatsaufgabe. "Eine kleine, aber weitreichende Änderung", findet Politikwissenschaftlerin Lorenz.
Neu ins Grundgesetz kam 1994 das Staatsziel Umweltschutz, für das Artikel 20a im Verfassungstext eingefügt und 2002 noch um das Staatsziel Tierschutz ergänzt wurde. Allerdings: Einklagbar sind solche Staatsziele im Gegensatz zu Grundrechten nicht. Kritikern, die sie deshalb als "überflüssige Leerformeln" geißeln, hält Lorenz entgegen, dass Staatsziele durchaus eine symbolische Bedeutung hätten, weil man sich darin auf das verständigt, "was einer Gesellschaft im Prinzip wichtig ist".
Initiativen, in ähnlicher Art und Weise der Kultur, dem Sport oder der deutschen Sprache Verfassungsrang zu geben, scheiterten dagegen. Auch der letzte größere Anlauf zur Ergänzung des Grundgesetzes 2021 um Kinderrechte war nicht erfolgreich.
Der Text des Grundgesetzes hat sich verdoppelt
Dennoch: Die Änderungen der vergangenen Jahrzehnte haben deutliche Spuren im Text des wichtigsten deutschen Gesetzes hinterlassen: Nicht einmal die Hälfte der ursprünglich 146 Grundgesetz-Artikel hat heute noch den gleichen Wortlaut wie 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossen. Die Zahl der Artikel stieg auf mehr als 200, mit mehr als 23.000 Wörtern ist der Text des Gesetzes heute auch mehr als doppelt so lang wie damals.
Viele Änderungen hätten das Grundgesetz aufgebläht, kritisierte der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm. Das sei mehr als nur ein "Schönheitsfehler", denn je mehr man in die Verfassung schreibe, umso weniger überlasse man dem politischen Prozess.
Wenn man sich von der Verfassung primär einen möglichst genauen juristischen Text erwarte, seien manche Änderungen tatsächlich kritisch zu sehen, meint auch Politikwissenschaftlerin Lorenz. "Wenn man aber davon ausgeht, dass die Verfassung auch bei schwierigen Themen einen gesellschaftlichen und politischen Konsens widerspiegeln soll, sind häufige und manchmal ausführliche Änderungen gar nicht so problematisch."
Interessant dagegen sei, dass große gesellschaftliche Veränderungen wie die Wiedervereinigung nur marginal ihren Niederschlag im Grundgesetz fanden, merkt sie an. Nach dem Beitritt der DDR 1990 wurde lediglich das in Artikel 23 verankerte Wiedervereinigungsgebot aufgehoben und die Präambel geändert.
Was ist mit Migration und Digitalisierung?
Ob eine Verfassung die Herausforderungen durch Migration und Digitalisierung aufgreifen solle, darüber wünscht sich Lorenz eine Debatte: Welche Beteiligungsrechte wolle die Gesellschaft Menschen anderer Staatsangehörigkeit geben und wie könnten Grundrechte unter den Bedingungen der Digitalisierung abgesichert werden?
Antworten auf solche Fragen müssten zwar nicht, aber könnten ihren Weg ins Grundgesetz finden, meint Lorenz - nicht gleich morgen, als 68. Änderung, aber eines Tages. Gesellschaftliche Veränderungen verlangten immer wieder "einen Konsens über das Grundgesetz als unser zentrales Rechtsdokument".