Bundesverfassungsgericht : Grundrechte ins Hier und Heute übersetzt
Mit ihrer Rechtsprechung halten die Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz in der Zeit.
Recht auf generationengerechten Klimaschutz: Aktivistin Luisa Neubauer (Mitte) gehörte 2022 zu den erfolgreichen Klägern gegen das Klimaschutzgesetz.
Umwelt und Tierschutz kamen als Staatsziele hinzu, das Wiedervereinigungsgebot fiel weg - über die Jahre ist das Grundgesetz immer wieder geändert und ergänzt worden. Doch zum Wandel der Verfassung hat auch das Bundesverfassungsgericht beigetragen.
Das Grundgesetz bestehe nicht nur aus einem Text, erklärte der frühere Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle einmal, sondern aus "weit über hundert Bänden Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, die diesen Text konkretisieren". Bei der Anwendung und Auslegung des Grundgesetzes passiert es nicht selten, dass die Karlsruher Richter als Hüter und Interpreten der Verfassung Grundrechte entwickeln, die darin wortwörtlich gar nicht stehen.
Grundrecht auf Religionsfreiheit
Zu solchen verfassungswandelnden Entscheidungen gehörte etwa das Urteil zur "Aktion Rumpelkammer", mit dem das Bundesverfassungsgericht 1968 das Grundrecht auf Religionsfreiheit ausarbeitete. Die Richter legten in ihrem Beschluss zur Beschwerde eines Lumpensammlers gegen eine bundesweite Sammlung von Kleidung und Lumpen der Katholischen Landjugend den persönlichen und sachlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit erstmalig sehr weit aus. Die Entscheidung ist bis heute als richtungsweisend.
Gleiches gilt für das Volkszählungsurteil von 1983, mit dem das Gericht auf dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aufbauend ein Grundrecht schuf, mit dem die Autoren des Grundgesetzes 1949 noch nicht rechnen konnten: das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung", kurz: Datenschutz-Grundrecht. Ein Meilenstein ist auch das Urteil der Karlsruher Richter aus dem Jahr 2008, mit dem sie die bisherige Praxis der Onlinedurchsuchung kippten und ihr enge Grenzen setzten. Das Gericht entwickelte so das "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme", das so genannte "Computer-Grundrecht".
Ebenfalls für die Schöpfungskraft des Verfassungsgerichts steht das Urteil zur Suizidbeteiligung: Mit diesem erklärte es 2020 das Verbot, die Selbsttötung "geschäftsmäßig zu fördern", für verfassungswidrig und erkannte das Recht auf selbstbestimmtes Sterben höchstrichterlich an.
Das gilt auch für das Recht auf "schulische Bildung", welches das Verfassungsgericht mit seinem Beschluss zur "Bundesnotbremse" kreierte: So machte es mit Blick auf die Schulschließungen während der Corona-Pandemie deutlich, dass der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schulbesuch ein Recht auf eine schulische Bildung durch den Staat gegenübersteht.
Für große Aufmerksamkeit sorgte schließlich das Urteil, mit dem das Gericht 2022 das damalige Klimaschutzgesetz als teilweise verfassungswidrig einstufte. Es verletze die Freiheitsrechte der kommenden Generationen, weil es die Last, Emissionen zu senken, in die Zukunft verschiebe. Laut Experten bestätigt das Gericht damit die Verpflichtung des Staates zum "generationengerechten Klimaschutz", die auch eingeklagt werden könne.
Dank solcher Entscheidungen bleibe die Verfassung auf der Höhe der Zeit, meint der ehemalige Verfassungsrichter Andreas Paulus: Die Urteile "übersetzen das Grundgesetz in die heutige Welt, ohne es zu ändern, so dass es für heutige Probleme aussagekräftig bleibt".