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Antisemitismus in Deutschland : Bundestag beschließt Resolution gegen Antisemitismus

Über den Antrag wurde monatelang verhandelt. Die aktuellen Diskussionen zeigen, dass der Umgang mit Antisemitismus schwierig bleiben wird.

08.11.2024
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4 Min

Jetzt gibt es ihn endlich, einen fraktionsübergreifenden Antrag von SPD, Grünen, FDP und der CDU/CSU-Fraktion zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland. Nach monatelangen Verhandlungen haben sich die bisherigen Regierungsfraktionen und die größte Oppositionsfraktion im Bundestag darauf unter dem Titel "Nie wieder ist jetzt - Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken" verständigt. Das ist ein starkes symbolisches Signal der Einigung innerhalb des Bundestages. Aber darüber hinaus sorgte das Papier, kaum war es in der Welt, für heftigen Widerspruch und einen offenen Brief, den mehr als 2.000 Journalisten, Künstler und Wissenschaftler unterzeichnet haben.

Foto: picture alliance / epd-bild

Jüdische Einrichtungen stehen nicht erst seit dem Hamas-Überfall auf Israel unter Polizeischutz. Doch seitdem mussten die Sicherheitsvorkehrungen, wie hier in einer Berliner Synagoge, deutlich verschärft werden.

Stein des Anstoßes ist vor allem die Antisemitismus-Definition, auf die sich die Fraktionen beziehen. Diese Definition haben sie, wie zuvor auch schon die Bundesregierung in einem entsprechenden Beschluss, von der IHRA (International Remembrance Alliance) übernommen. Die IHRA definiert Antisemitismus als eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass ausdrücken kann. Von der rechtlich nicht bindenden Arbeitsdefinition werden unter anderem die Vorstellung einer "jüdischen Weltverschwörung", die Leugnung des Holocaust und das Zuschreiben kollektiver Verantwortung von Juden für die Politik des Staates Israel umfasst. Die Unterzeichner des offenen Briefes wünschen sich nach eigener Aussage eine Debatte darüber, wie Staat und Zivilgesellschaft jüdisches Leben schützen könnten, "ohne Minderheiten gegeneinander auszuspielen". Dabei sei es wichtig, nicht auf "unsichere Definitionen" zu setzen.

Es ist inzwischen ein Konflikt, der weit über Nahost hinausreicht

Am Donnerstag hat sich der Bundestag 90 Minuten Zeit genommen, um über den Antrag zu debattieren. Erst Anfang Oktober hatte sich das Parlament anlässlich des Jahrestages des Hamas-Massakers in Israel mit den Folgen der Gewaltspirale in Nahost befasst. Folgen, die sich schon längst nicht mehr auf die Region beschränken, sondern in vielen westlichen Demokratien zu sehr konfrontativen Debatten über den Umgang mit islamistischem Terror und der Reaktion Israels darauf führten. Der fraktionsübergreifende Antrag ist nur ein Baustein der deutschen Debatte. Er prangert den rechtsextremistischen, den islamistischen und den "links-antiimperialistischen" Antisemitismus als Ursache einer "zutiefst beunruhigenden" Entwicklung an und fordert unter anderem, "Gesetzeslücken zu schließen und repressive Möglichkeiten konsequent auszuschöpfen", insbesondere im Strafrecht, aber auch im Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht. In Zahlen der Polizeistatistik lässt sich diese Entwicklung wie folgt ausdrücken: Seit dem Hamas-Überfall auf Israel hat sich die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland verdoppelt (rund 3.500).

Der Antrag bekommt eine breite Mehrheit

In der Debatte verteidigten Abgeordnete der antragstellenden Fraktionen die verwendete Antisemitismus-Definition, während vor allem Die Linke und das BSW sie kritisierten und unter anderem damit ihr Abstimmungsverhalten begründeten: Der Antrag wurde mit breiter Mehrheit der bisherigen Ampel-Fraktionen, der Unionsfraktion und der AfD-Fraktion angenommen, wohingegen sich die Gruppe Die Linke enthielt und die Gruppe BSW dagegen stimmte.


Konstantin von Notz während einer Rede
Foto: picture alliance/dpa
„Wenn die barbarischen Anschläge vom 7. Oktober offen bejubelt werden, dann ist das glasklar antisemitisch.“
Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen)

Andrea Lindholz (CSU) erinnerte an das Leid der Juden im Nationalsozialismus: "Dieses Leid ist bis heute unvergessen und es muss auch in Zukunft unvergessen bleiben! Wir müssen Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen bekämpfen!" Sie erneuerte schließlich die Rücktrittsforderung der Unionsfraktion an Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz (SPD), der kürzlich wegen eines Social-Media-Posts zum Gaza-Krieg Antisemitismus vorgeworfen wurde und für den sie sich entschuldigt hatte. Lindholz sagte dennoch: "Es ist unerhört, dass sie immer noch an ihrem Amt festhält."

Konstantin von Notz (Grüne) betonte: "Antisemitismus kommt von ganz rechts und geht bis ganz links, er kommt aber auch, wie schon 1938, aus der Mitte der Gesellschaft" und er beruhe auf der Zuwanderung aus Ländern, in denen Antisemitismus staatlich indoktriniert werde. "Wenn die barbarischen Anschläge vom 7. Oktober offen bejubelt werden, dann ist das glasklar antisemitisch und menschenverachtend." Die IHRA-Antisemitismus-Definition mache Israelkritik keinesfalls unmöglich.

Das Thema soll damit nicht abgehakt werden

Konstantin Kuhle (FDP) betonte: "Hinter dem Vorwurf steckt ein fundamentales Missverständnis, denn diese Resolution der Fraktionen soll die Diskussion über Antisemitismus fördern und nicht beenden, sie soll das Thema nicht abhaken." Diese Auseinandersetzung könne nicht bequem sein.

Worum geht es?

📈 Seit dem Massaker der Hamas in Israel im Oktober 2023 haben sich antisemitische Straftaten in Deutschland auf 3.500 verdoppelt.

🚓 Seit dem Überfall häufen sich aber auch jenseits strafrelevanter Fälle Übergriffe und Vorfälle, die sich gegen jüdische Menschen und Einrichtungen richten. Der Polizeischutz vor Schulen, Synagogen und anderen Veranstaltungsräumen musste massiv verstärkt werden.

🙅‍♂️ In ihrem gemeinsamen Antrag "Nie wieder ist jetzt" bekennen sich SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU dazu, jüdisches Leben in Deutschland besser schützen zu wollen, unter anderem auch durch Strafverschärfungen. Umstritten ist die verwendete Definition von Antisemitismus.



Dirk Wiese (SPD) betonte die Wichtigkeit, dass der Bundestag trotz der aktuellen politischen Entwicklung des Endes der Ampel-Regierung und trotz aller Meinungsverschiedenheiten dieses "Signal der Gemeinsamkeit" sende. "Dass Menschen jüdischen Glaubens überlegen, Deutschland zu verlassen, muss uns beschämen", sagte er. "Dieser Antrag kann nicht alle Probleme lösen und soll auch nicht Diskussionen beenden, aber er soll ein Zeichen an alle Menschen jüdischen Glaubens senden, die hier friedlich leben wollen."

Jürgen Braun (AfD) nannte es naiv, in dem Antrag zu behaupten, jüdisches Leben sei ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft. "Wie kann es selbstverständlich sein, wenn Juden sich nicht mehr zu erkennen geben können?", fragte er. Die Antwort der Ampel darauf seien noch mehr Antisemitismus- und Islambeauftragte an staatlichen Institutionen, die aber oft selbst Teil des Problems seien, so Braun.

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Gregor Gysi (Die Linke) sagte, "Kritik an der israelischen Regierung hat mit Antisemitismus nichts zu tun, wenn sich nicht dahinter eine Ablehnung des Judentums verbirgt." Der Antrag sei "nicht gut", weil er jüdisches Leben in Deutschland "nicht wirksam schützt und weil viele eine Einschränkung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit befürchten".

Sevim Dagdelen (BSW) kritisierte, der Antrag erweise dem Kampf gegen Antisemitismus einen "Bärendienst". Denn: “Sie wollen eine wissenschaftlich umstrittene Antisemitismus-Definition staatlich postulieren. Die Kritik an der zum Teil rechtsextremen israelischen Regierung wird so unter den Verdacht des Antisemitismus gestellt.”