Im Porträt : Die Verfassungspraktiker
Ein Anwalt, eine Wissenschaftlerin, ein Literat - drei Menschen mit einer besonderen Beziehung zum Grundgesetz im Porträt.
Inhalt
Hubert Heinhold: "Die Menschen werden entmutigt"
Wer wegen seiner Rasse, Nationalität, politischen Überzeugung, Religion oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in seinem Heimatland verfolgt wird, hat in Deutschland Recht auf Asyl. So steht es in Artikel 16 Absatz 1 des Grundgesetzes. Wer abgelehnt wird - etwa bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat -, kann Flüchtlingsschutz erhalten. Das regelt die Genfer Flüchtlingskonvention. Doch Artikel und Paragrafen sind das eine, Realität und Praxis etwas völlig anderes. Davon kann kaum jemand besser berichten, als der Münchner Asylrechtsanwalt Hubert Heinhold. Am Telefon nach den Besonderheiten des deutschen Asylsystems gefragt, muss er nicht lange überlegen. "Die Bewerber stehen einer mächtigen und sehr bürokratisierten Verwaltung gegenüber", erklärt der 74-Jährige. "Sie sprechen unsere Sprache nicht, sie kennen unser Recht nicht. Sie sind verloren."
Heinhold war viele Jahre Vize-Vorsitzender des Bayerischen Flüchtlingsrats und der Organisation "Pro Asyl", seit mehr als drei Jahrzehnten ist er Rechtsberater beim Wohlfahrtsverband Caritas und damit eine der wichtigsten Anlaufstellen für Asylbewerber und Geflüchtete in Deutschland. "Es ist wichtig, für diese Menschen da zu sein", sagt Heinhold, der selbst im Ruhestand noch ehrenamtlich für seine Schützlinge kämpft. Warum? "Ohne Vertretung haben sie keine ernsthafte Chance."
Heinholds Mandanten sind Afghanen oder Somalier, deren Asylanträge abgelehnt wurden, "obwohl jeder vernünftige Mensch weiß, dass man niemanden in diese Länder abschieben kann". Oder Asylbewerber, die eine Wohnung gefunden haben, aber das Flüchtlingslager trotzdem nicht verlassen sollen. Bis heute erinnert sich Heinhold außerdem gut an den Fall einer jungen Kongolesin, deren Familie brutal von Rebellen ermordet wurde. "Der Bruder wurde mit einer Machete geköpft", schildert er nachdenklich. "Trotzdem waren die Behörden zunächst der Ansicht, für die Frau liege im Kongo keine individuelle Gefährdung vor." Erst als sie glaubhafte Belege für die Bluttat vorlegen konnte, revidierten diese ihr Urteil. "Solche Schicksale vergisst man nicht", sagt Heinhold. "Die nimmt man mit nach Hause."
"Politik muss umdenken"
Nur allzu oft würden die Gerichte Fehlentscheidungen treffen, kritisiert der Jurist. Asylanträge etwa von Bewerbern aus Afghanistan und Somalia würden zunächst häufig abgelehnt - am Ende dürften die Menschen trotzdem bleiben. "Da ist offenbar ein schlechtes Gewissen da., sie abzuschieben. Nur warum werden dann überhaupt so ellenlange Verfahren geführt?", fragt sich Heinhold, der darüber nur den Kopf schütteln kann. Genauso wie über Fälle, in denen sich verzweifelte Arbeitgeber an ihn wenden, weil ihre Hilfskraft abgeschoben werden soll. "Dabei braucht unsere Wirtschaft doch so dringend Arbeitskräfte." Heinhold sieht in solchen Entscheidungen "rein aus prinzipiellen Gründen" ein Versagen der Politik: "Sie hat noch immer nicht erkannt, dass es ein echtes Umdenken braucht. In die Richtung, dass Zuwanderung auch von Vorteil ist."
Die restriktive Haltung der Behörden schlage sich auch im Umgang mit den Asylbewerbern nieder. "Alles wird ihnen vorgeschrieben. Mit Ausnahme der Ukrainer dürfen sie weder arbeiten noch eine eigene Wohnung haben. Sie werden regelrecht entmündigt". Heinhold findet, dass der Staat damit seinen eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen zuwiderhandelt. "Unsere Verfassung beruht auf dem Grundsatz der Menschenwürde und der Freiheit der Person. Dass das bei Asylbewerbern anders gehandhabt wird, macht das Thema auch verfassungsrechtlich zentral." Nicht zuletzt sei das Grundrecht auf Asyl im Zusammenspiel mit der Genfer Flüchtlingskonvention das einzige altruistische Grundrecht in der Verfassung. "Davon geht auch ein gesellschaftspolitisches Signal aus."
Appell für mehr europäische Solidarität
Heinhold kann trotzdem verstehen, dass Zuwanderung vielen Menschen Angst macht. "Migration ist ein schwieriges Thema, das schwer lösbare Fragen aufwirft. Und natürlich geht es da auch um eine Überforderung Deutschlands." Die Antwort sieht er aber nicht in mehr Abschiebungen und Grenzzäunen. "Das wird nicht funktionieren. Die Menschen kommen trotzdem." Es brauche neue Ideen und vor allem mehr europäische Solidarität. "Wir müssen endlich über die ungerechte Verteilung innerhalb Europas und das Ausscheren von Ungarn und anderen Staaten reden", sagt Heinhold. Erstmals wird seine sonst so ruhige Stimme lauter.
Bis heute bekommt der 74-Jährige Briefe von ehemaligen Mandaten. Auch Freundschaften sind über die Jahre entstanden. "Diese Arbeit ist eine Herzensangelegenheit für mich, seit ich als junger Anwalt zur Caritas kam", sagt Heinhold. Aufhören kommt für ihn daher nicht in Frage. "Solange mein Kopf funktioniert, werde ich weitermachen."
Sandra Kostner: "Möglichst viele Meinungen hören"
Die Freude am Diskurs merkt man ihr sofort an. Ruhig, abgewogen, spricht Sandra Kostner über ihre eigenen Forschungserfahrungen, über das Klima an deutschen Hochschulen. Und sie hört zu. "Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben einen weiten Schutzbereich für Meinungsfreiheit geschaffen", sagt sie. "Dazu gehört, möglichst viele Meinungen zu hören."
Es ist Vormittag, aber für die 48-jährige Historikerin und Soziologin ist die Sonne längst untergegangen. Kostner schaltet sich per Zoom-Call zu, gerade ist sie in Australien. "Endlich", sagt sie, "es ist das erste Mal seit drei Jahren". Die Migrationsforscherin hat sechs Jahre im kleinsten Kontinent gelebt, hält immer noch intensive Kontakte. In Australien hatte sie auch ihren ersten Kontakt in Sachen Wissenschaftsfreiheit. "Eine Initialzündung war 2017, als ich hörte, dass an der University of Sydney jungen Männer gesagt wurde, sie mögen sich in den Seminaren zurückhaltend melden, ansonsten würde ihr White-Male-Privileg andere hemmen." Sie fragte sich, wie sich ein "solch offenkundiger Aufruf, Menschen aufgrund von Abstammungsmerkmalen zu diskriminieren, auf Forschung und Lehre auswirken würde".
"In Australien ist man eng mit der angelsächsischen Welt verbunden, fragt viel: 'Was passiert in den USA?'", erzählt sie. Und da sei die moralische Panik, die nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2017 eingesetzt habe, nach Australien geschwappt, mit dem Ruf nach Safe Spaces und Trigger-Warnungen - "und dem Trend, vorzugeben, was an Universitäten gesagt werden darf und was nicht". Kostner sieht vor allem eine "linke Identitätspolitik" am Werk, die Menschen nicht als Individuen behandele, sondern als Träger von ethnischen, kulturellen, religiösen oder sexuellen Merkmalen. "Dadurch entsteht eine Wir-gegen-die-Mentalität, die zu einer massiven Spaltung der Gesellschaft führt."
Im Februar 2021 initiierte sie die Gründung des "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" in Deutschland, gemeinsam mit 70 Gründungsmitgliedern. "Ich fragte mich vorher, warum das keiner macht." Sie sah eine Einengung des Diskursraums, eine "Ideologisierung, Politisierung und Religionisierung der Wissenschaft durch Agenda-Wissenschaftler". Also machte sich Kostner, die in Calw geborene Geschäftsführerin des Masterstudiengangs "Interkulturalität und Integration" an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, selbst ans Werk.
Kostner sieht wachsenden Konformitätsdruck
Moment, herrschen denn tatsächlich angelsächsische Verhältnisse auch zwischen Hamburg und München, Köln und Dresden? Ist der Mainstream, zum Beispiel an den Hochschulen, wirklich links und vor allem identitätsorientiert unterwegs? Nun, entgegnet sie, persönlich habe sie wenig Angriffe erlebt, aber durchaus beobachtet. "Wir übernehmen diese Entwicklung in abgeschwächter Form. Der Raum dessen, was erforscht werden kann, wird kleiner." Wo gilt das? "Meist in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften", da sehe sie einen "Konformitätsdruck". Der entstehe auch durch das massenhafte Prekariat, die Unsicherheit der beruflichen Verhältnisse durch befristete Arbeitsverträge - und durch die von neoliberalen Reformen der rot-grünen Bundesregierung der Nullerjahre betriebenen Notwendigkeit für Forschung, Drittmittel einzuwerben. "Das führt in Teilen dazu, dass Projekte nicht genehmigt werden, wenn sie nicht auf Linie sind."
Kostner sieht sich als liberale Stimme, als eine Mahnerin und Warnerin. Ihre drastischen Worte irritieren zuweilen, die Freiheit in Deutschland so sehr in Gefahr zu sehen, überrascht. Aber: Kostner treibt nicht an, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, sie will hingegen auch die Freiheit ihrer Kritiker verteidigen.
Neue Blickwinkel in Australien
Ursprünglich hatte Kostner Genozidforschung betrieben. Nach dem Studienabschluss in Stuttgart verschlug es sie nach Australien, "über das Land wusste ich wenig - ich wollte in eine Region, die man nicht mal so eben schnell bereist". Kostner kam schnell an. Mit einem Promotionsstipendium im Gepäck stellte sie sich kurzentschlossen in der Stadt Cairns beim lokalen Museum vor, wurde weiter vermittelt und arbeitete dann in einem Beratungsprogramm für Museen für Far North Queensland, in der Stadtverwaltung und als Lehrbeauftragte an der Uni von Sydney. Und sie entdeckte für sich die Migrationsforschung. "Die empfand ich als lebensbejahender als die berufliche Auseinandersetzung mit Genoziden." Außerdem gefiel ihr, wie Migration als Thema in Australien positiv besetzt sei, "was viel damit zu tun hat, dass die Australier die Einwanderungspolitik ihrer Regierung akzeptieren, weil sie gesteuert und kontrolliert verläuft". In Deutschland dagegen empfindet sie es als umstrittener und umkämpfter. "Ich habe ein entspanntes Verhältnis dazu kennengelernt", sagt sie, "das hat mich geprägt".
Georg M. Oswald: "Die Rechte der Anderen sind legitime Positionen"
Normalerweise sind Grundgesetzkommentare trockene Kost. Begriff für Begriff, Artikel um Artikel wird beleuchtet, die Bedeutung geklärt und erläutert, wie das die "herrschende Meinung" der Rechtswissenschaften sieht. Es ist Fachsimpelei für Fachleute. Ein vergangenes Jahr im Beck-Verlag erschienener Grundgesetzkommentar wählt einen anderen Zugang: Es ist ein "literarischer Kommentar". "Die Idee war, zu sehen, was sprachgewandte Menschen daraus machen, wenn sie mit diesem Text konfrontiert werden", sagt Herausgeber Georg M. Oswald. Eine illustre Runde bekannter Namen, darunter Schriftstellerinnen, Journalisten und ehemalige Verfassungsrichter, hat genau das getan. Nobelpreisträgerin Herta Müller etwa nähert sich der Menschenwürde vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung mit der Unterdrückung durch das Ceausescu-Regime in Rumänien. Entstanden ist so ein vielstimmiger und vielfältiger Kommentar. "Es ist sehr beeindruckend, wie manche Autorinnen und Autoren es vermögen, diese wenigen Sätze zum Leben zu erwecken", fasst Oswald seinen Eindruck zusammen.
Oswald ist in beiden Welten - der juristischen sowie der literarischen - zuhause. Mehr als 20 Jahre lang praktizierte er als Rechtsanwalt in München, kümmert sich vor allem um zivilrechtliche Streitigkeiten. Parallel dazu profilierte er sich als Schriftsteller. Kurz nach seinem zweiten Staatsexamen debütierte er 1995 mit dem Erzählband "Das Loch". Mit dem Roman "Alles, was zählt" gelang ihm im Jahr 2000 der literarische Durchbruch. Zuletzt erschien 2020 der Roman "Vorleben". Seine Anwaltsrobe hängte der 59-Jährige im selben Jahr an den Nagel und widmet sich nunmehr als Lektor im Hanser-Verlag der "schönen Literatur".
Der literarische Kommentar ist nicht das erste Mal, dass sich Oswald publizistisch mit dem Grundgesetz auseinandersetzt. 2018 erschien bei Piper das Buch "Unsere Grundrechte". Seine Motivation: "Wer die Ideen und Gedanken hinter der Rechtsordnung nicht kennt, der kann am Recht verzweifeln - und viele Menschen tun das auch", sagt Oswald. Das sei etwas, was man als Anwalt oft erlebe. Dem Juristen und Schriftsteller geht es um allgemeinverständliche Erklärungen, aber auch um die grundlegenden Prinzipien; er schreibt an gegen eine Lektüre des Grundgesetzes, die nur zur Begründung der eigenen Position, des eigenen Rechts dienen soll. Das hat Oswald auch während der Corona-Pandemie gestört. Gerade der Begriff der Freiheit sei oft auf "merkwürdige, geradezu abwegige Weise" verstanden worden: "Nicht als Freiheit des Anderen, sondern zuerst - und häufig ausschließlich - als Freiheit des Einzelnen."
Abwägungsgebot des Grundgesetzes
Einen der Gründe für diese selektive Lesart sieht Oswald in der Weise, wie die Väter und Mütter der Verfassung die Grundrechte formuliert haben. "Aus der Sicht eines Laien wird ein Grundrecht im ersten Satz gewährt - und dann kommen die Einschränkungen", erklärt er. Das könne so gelesen werden, als seien es letztlich nur "leere Versprechen". Doch drücke sich darin das Abwägungsgebot aus: Eigene Rechte zu denken, das bedeute, auch über die Rechte der anderen nachzudenken. "Die Rechte der Anderen sind nicht nur Schranken meiner eigenen, sondern legitime Positionen", betont Oswald. Das Abwägen sei daher die Hauptarbeit der Juristinnen und Juristen, aber ebenso, wenn man in gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Zusammenhängen darüber nachdenkt, wer Recht hat.
Abwägend gibt sich der Münchener auch, wenn es um die Beurteilung der literarischen Zugänglichkeit des Grundgesetzes geht. Als Schüler habe er ob der vielen altertümlichen und abstrakte Begriffe rätselnd davor gestanden. Viele eher technische Vorschriften, etwa die Regeln des Länderfinanzausgleichs, seien kein Lesevergnügen: "Welcher Mensch soll das verstehen?" Aber, so spricht der Jurist, das Grundgesetz sei vor allem ein Regelwerk. Eine Regel zusammenzubringen mit einem schönen, vielleicht sogar literarischen Klang könne auch gelingen. "Der Satz: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar' hat es zu einem der bekanntesten Sätze unserer Republik gebracht", sagt er - "wenn das einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin gelingt, dann hat man einen interessanten Satz geschrieben".
Eines seiner literarischen Highlights im Verfassungstext versteckt sich ganz hinten: Artikel 146, der regelt, dass das Grundgesetz außer Kraft tritt, wenn eine neue, "vom deutschen Volk in freier Entscheidung" beschlossene Verfassung in Kraft tritt. Sprachlich sei der Artikel gar nicht so bedeutend, aber dennoch von "großer Schönheit", sagt Oswald. "Eine politische Ordnung, die ihr eigenes Ende und die Möglichkeit der eigenen Beendigung mit denkt - das scheint mir Größe zu haben."