Wie die Kirche mit dem Thema Krieg umgeht : Friedensethik in Kriegszeiten
Die Evangelische Kirche in Deutschland streitet über Pazifismus, Völkerrecht und Waffengewalt. Anlass ist der Krieg in der Ukraine.
Aktivisten haben vor der russischen Botschaft in Berlin einen im Krieg zerstörten Panzer platziert als Protest gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine.
Die Theologin Margot Käßmann ist eine populäre Stimme der evangelischen Kirche. 2010 wurde sie als damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" bekannt, mit dem sie den internationalen Militäreinsatz am Hindukusch kritisierte. Seit jeher setzt sich Käßmann, die sich selbst als Pazifistin bezeichnet, für Gewaltlosigkeit ein.
Das wurde jüngst wieder deutlich, als sie eine der Erstunterzeichnerinnen des "Manifestes für den Frieden" war. Das Manifest, geschrieben von der "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer und der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, fordert das Ende westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine und vorbehaltslose Verhandlungen zur Lösung des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs.
Käßmann plädiert für einen konsequenten Pazifismus
Trotz heftiger Kritik an dem Manifest und ihren Autorinnen verteidigte Käßmann ihre Unterschrift unter der Petition, die auf der Online-Plattform change.org mittlerweile mehr als eine halbe Million Menschen unterzeichnet haben. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Rundschau" schrieb Käßmann wenige Tage nach Veröffentlichung des Manifests, der Pazifismus kenne andere Narrative als die militaristischen.
Es gehe um Mediation, Diplomatie, gewaltfreie Konfliktbewältigung und zivilen Widerstand. Kurzfristige Lösungen, den Angriffskrieg auf die Ukraine zu beenden, habe die Friedensbewegung zwar nicht, räumte sie ein, aber die Bellizisten und Waffenlobbyisten hätten sie auch nicht.
Keine vorbehaltslosen Verhandlungen mit dem russischen Aggressor
Der Ruf nach vorbehaltslosen Verhandlungen mit dem Aggressor, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, stößt nicht nur bei Politikern und Sicherheitsexperten auf scharfe Kritik, auch innerhalb der evangelischen Kirche gibt es Widerspruch. In der Wochenzeitung "Die Zeit" erschien am 23. Februar ein Streitgespräch zwischen Käßmann und der Theologin Petra Bahr, die Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Bahr sprach von einem "Manifest der Unterwerfung". Die zynische Pointe des Papiers bestehe darin, dass sich alles um deutsche Befindlichkeiten drehe, wie etwa die deutsche Angst vor einem Atomkrieg.
Bahr spricht sich für Waffenlieferungen aus, die "im Angesicht des Bösen Schlimmeres verhindern" sollen. Dem idealistischen Pazifismus Käßmanns erteilt Bahr, die Regionalbischöfin für Hannover ist, eine klare Absage: Pazifismus als Haltung gegenüber selbst erlebter Gewalt finde sie zwar beeindruckend, diese Haltung könne aber nicht jemand anderem auferlegt werden.
Strittige Positionen in der Frage der Waffenlieferungen
In beiden Positionen wird das Dilemma deutlich, in dem die EKD derzeit steckt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 streitet die EKD über eine gemeinsame Position in der Frage der Waffenlieferungen, die in ihrer Zuspitzung zum Kristallisationspunkt der erneuten Debatte über die Ethik von Krieg und Frieden geworden ist.
Während die heutige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine betont und deswegen Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine als legitim ansieht, stellte sich der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer ähnlich wie Käßmann von Anfang an gegen Waffenlieferungen.
Diskussion über eine mögliche Revision der Friedensdenkschrift von 2007
Beide Parteien beziehen sich auf die bislang jüngste umfassende Publikation der EKD zum Thema Frieden, die Denkschrift aus dem Jahr 2007: "Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen". Doch weil die Denkschrift angesichts des Krieges in der Ukraine stellenweise keine befriedigenden Antworten bietet und eindeutige Positionierungen nicht ermöglicht, soll in einem breiten Konsultationsprozess bis 2025 geklärt werden, ob die Friedensdenkschrift teilweise revidiert, ergänzt oder gänzlich neu gefasst werden soll. Im Januar traf sich das Gremium, das den Prozess koordinieren soll, erstmals in Berlin. Angedacht ist ein mehrstufiges Verfahren, das in einen Grundlagentext münden soll.
Die Denkschrift etablierte das Leitbild des "gerechten Friedens", das seither als Kernstück protestantischer Friedensethik gilt. Die Denkschrift stellte klar, dass zur Wahrung und Wiederherstellung des Rechts unter Umständen auch der Einsatz militärischer Gewalt ethisch legitimierbar ist. Grundsätzlich dürfen demnach militärische Mittel nur als Ultima Ratio eingesetzt werden, Vorrang haben stets friedliche Mittel der Konfliktbewältigung.
Möglichkeit der Gewaltanwendung als Ultima Ratio
Diese Sicht hat der Initiator der Denkschrift, der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, einmal als "Verantwortungspazifismus" bezeichnet. In der Möglichkeit der Gewaltanwendung als Ultima Ratio unterscheidet sich diese Haltung von einem radikalen christlichen Pazifismus, der per Definition jede Gewaltanwendung mit Verweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu kategorisch ablehnt.
Einigkeit besteht darin, dass das oberste Ziel die Sicherung und Wiederherstellung des "gerechten Friedens" sein muss. Gerechter Friede bedeutet dabei nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit im Sinne der Menschenrechte und des Völkerrechts.
Frieden ist in vielen Religionen ein zentrales Ideal
Frieden ist in vielen Religionen, auch im Christentum, ein zentrales Ideal, der Einsatz für Frieden ist eine Glaubensauffassung für Christinnen und Christen. Diese Ansicht hat sich jedoch umfassend erst nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschen Protestantismus durchgesetzt. In der Nachkriegszeit wurde die kirchliche Lehre vom "gerechten Krieg", wonach Krieg unter gewissen Bedingungen gerechtfertigt ist, final auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt.
Die evangelische Kirche schloss sich dem Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen an, nachdem deutsche Protestanten im Ersten und Zweiten Weltkrieg die preußischen beziehungsweise nationalsozialistischen Machthaber im Krieg unterstützt hatten. Doch der russische Angriffskrieg stellt die Friedensethik, wie sie in der Denkschrift von 2007 zum Ausdruck kommt, in zwei wesentlichen Punkten infrage: im Fokus auf das Völkerrecht und der Einstellung zu Atomwaffen.
Theologe Körtner will Friedensethik an Realitäten ausrichten
Nach Ansicht des Wiener Theologieprofessors Ulrich Körtner muss sich die evangelische Friedensethik stärker an den geopolitischen Realitäten ausrichten. Die Denkschrift habe die Macht des Völkerrechts überschätzt. Der russische Angriff auf die Ukraine zeige, dass das Völkerrecht nur dann funktioniere, wenn es von allen Staaten anerkannt werde.
Als wesentlichen Kritikpunkt nennt Körtner, dass die Denkschrift die Frage nicht beantworte, was geschehe, wenn das Völkerrecht nicht durchsetzbar ist. Die Sprachregelung der Denkschrift, allenfalls von rechtserhaltender Gewalt im Rahmen von UN-Mandaten zu sprechen, habe zu einseitig auf die Vereinten Nationen gesetzt und die realpolitischen Schwächen des Völkerrechts nicht genügend bedacht.
Ungeklärte Haltung der Kirchen zur atomaren Abschreckung
Das hat auch die amtierende EKD-Ratsvorsitzende und oberste Repräsentantin der gut 19,7 Millionen deutschen Protestanten erkannt. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" im Juni 2022 resümierte Annette Kurschus, rückblickend müsse man feststellen, dass die Besonderheiten des Völkerrechts gerade mit Blick auf die Rechtsdurchsetzung in der Denkschrift "nicht ausreichend berücksichtigt" seien.
Ebenso problematisch wie das Vertrauen in die Macht des Völkerrechts ist nach Ansicht Körtners die ungeklärte Haltung zur atomaren Abschreckung, die als unerlässliches Verteidigungsprinzip der Nato für die Sicherheit des Westens garantiert.
Die Friedensformel von Carl Friedrich von Weizsäcker
Mit der Frage nach dem Prinzip atomarer Abschreckung ist eine seit den 1950er Jahren schwelende Diskussion innerhalb des Protestantismus berührt, die 1959 in die Heidelberger Thesen mündete.
Der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker, maßgeblicher Autor der Thesen, fand damals eine komplementäre Formel, die bis zur Wende Bestand hatte: Die Grundhaltungen fanden Ausdruck in These 7: "Die Kirche muss den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen" und These 8: "Die Kirche muss auch die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen."
Radikalpazifisten und Verantwortungspazifisten
Vom Prinzip des unbedingten Nein, aber des bedingten Ja zur atomaren Abschreckung wandte sich die Friedensdenkschrift 2007 vollständig ab. Die Drohung mit Nuklearwaffen könnte "heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung" betrachtet werden. Es bleibe aber umstritten, welche politischen und strategischen Folgerungen aus dieser gemeinsam getragenen friedensethischen Einsicht zu ziehen seien, heißt es in dem Dokument.
So stehen die radikalpazifistische Haltung und die der Verantwortungspazifisten gleichgewichtet und unverbunden nebeneinander. Das sei ein Rückschritt hinter frühere friedensethische Denkschriften, kritisiert der Theologe Körtner.
Die Reaktion der Regierungskoalition auf den Flüchtlingszustrom bleibt unter den Fraktionen im Bundestag heftig umstritten.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagt der Ukraine weitere Waffenlieferungen zu - und erteilt einem "Diktatfrieden" eine Absage.
Die SPD-Fraktionsvize, Gabriela Heinrich, über Versäumnisse in der Russlandpolitik und die Chancen auf Verhandlungslösungen im Ukrainekrieg.
Auf der Tagung des evangelischen Kirchenparlaments 2019 in Dresden beschloss die Synode eine Friedenskundgebung, die die Forderung an die Bundesregierung enthält, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten. Weil dies auch die Mitgliedschaft im Nato-Verteidigungsbündnis berührt hätte, wurde auf Druck der früheren FDP-Bundesministerin und damaligen Präses der Synode, Irmgard Schwaetzer, ein Passus eingefügt, wonach dafür Gespräche mit den Bündnispartnern nötig seien. Aus Sicht Körtners reicht das nicht. Er meint, die evangelische Friedensethik müsse dringend auf den Prüfstand.
Die Autorin ist Politikredakteurin beim Evangelischen Pressedienst (epd)