Großkrise – und nun? : Härtetest für die Demokratie
In Deutschland kann kein Ausnahmezustand ausgerufen werden, der die Verfassung oder Teile außer Kraft setzt. Doch kann der Gesetzgeber rasch auf Notlagen reagieren.
Die deutsche Demokratie steht vor einem Härtetest. Die Gasversorgung ist gefährdet, die Corona-Pandemie hält an und Russland versucht, die Gesellschaft zu spalten. Ist das deutsche Recht auf zugespitzte Situationen ausreichend vorbereitet?
Das Grundgesetz sieht keine Möglichkeit vor, bei Seuchen, Naturkatastrophen oder existenziellen Wirtschaftskrisen einen "Ausnahmezustand" zu verhängen, der die Verfassung oder Teile davon außer Kraft setzt. Zwar wurden Ende der 1960er Jahre einige Notstandsregeln ins Grundgesetz eingefügt, diese beziehen sich jedoch vor allem auf außenpolitische Konfliktlagen. Sie sind anwendbar im Verteidigungsfall, im Spannungsfall und teilweise im Bündnisfall.
Auf die Gaskrise reagierte der Bundestag im Frühsommer mit verschiedenen, verbindlichen Vorgaben. Als Blaupause diente die Ölkrise von 1973. Damals kam es unter anderem zu autofreien Sonntagen.
Demokratie und Rechtsstaat bleiben
Zum Beispiel kann im Verteidigungsfall die Gesetzgebung auf einen 48-köpfigen "Gemeinsamen Ausschuss" von Bundestag und Bundesrat übergehen, wenn diese nicht mehr beschlussfähig sind. Auch Arbeitsverpflichtungen für Bürgerinnen und Bürger sind im Verteidigungs- oder Spannungsfall möglich. Die Bundeswehr kann im Innern zum Objektschutz eingesetzt werden und auch sonst der Polizei helfen. Demokratie und Rechtsstaat bleiben aber auch in diesen Sonderlagen stets erhalten, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger werden nicht außer Kraft gesetzt. Doch auch ohne ausdrückliche grundgesetzliche Ermächtigung kann der Gesetzgeber für Extremlagen entsprechende Regelungen schaffen, die entweder auf Vorrat eingeführt werden oder nach Eintritt der Notlage als Reaktion auf konkrete Probleme. Im Extremfall können Gesetze binnen weniger Tage beschlossen werden.
Wie bei allem staatlichen Handeln gilt aber auch hier das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Das heißt: Es muss erstens ein legitimes Ziel verfolgt werden, zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, drittens dürfen keine milderen, gleich effektiven Mittel zur Verfügung stehen, und viertens muss die Maßnahme angemessen sein. Dabei hat der Staat grundsätzlich einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum.
Maßnahmen gerichtlich überprüfbar
Die Maßnahmen sind aber gerichtlich überprüfbar, wobei die strengste Prüfung auf der vierten Ebene - bei der Angemessenheit - stattfindet. Maßnahmen der Behörden können vor den Verwaltungsgerichten angegriffen werden, Verordnungen der Länder vor den Oberverwaltungsgerichten und Gesetze beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Ein gutes Beispiel ist die drohende Gaskrise, auf die der Bundestag zum Beispiel mit verbindlichen Vorgaben zum Energiesparen und zur Verteilung der Lasten reagieren kann. Blaupause hierfür ist die Ölkrise 1973. Als Reaktion auf die US-Unterstützung für Israel im Jom-Kippur-Krieg verhängten die arabischen Ölproduzenten ein Embargo gegen die USA. Dies ließ den Ölpreis massiv ansteigen und führte zu einer weltweiten Rezession. Um Öl zu sparen, ordnete die Bundesregierung kurzfristig vier autofreie Sonntage an und setzte ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen fest.
Beispiel: Verbindliche Vorgaben zum Energiesparen
Grundlage hierfür war das Energiesicherungsgesetz, das der Bundestag im Jahr 1973 ad hoc beschlossen hatte. Dieses Gesetz, das zunächst auf ein Jahr befristet gewesen war, besteht noch heute und wird seit dem russischen Angriff auf die Ukraine auch wieder genutzt.
So beschloss der Bundestag am 12. Mai dieses Jahres, dass russisch kontrollierte Gasspeicher zeitweilig unter deutsche Treuhandverwaltung genommen werden können. Im Extremfall ist nun sogar eine Enteignung - gegen Entschädigung - möglich. Eine weitere Ergänzung des Energiesicherungsgesetzes beschloss der Bundestag am 7. Juli. Die Bundesregierung kann seitdem per Verordnung bestimmen, dass die gestiegenen Kosten der Importeure gleichmäßig auf alle Gas-Verbraucher verteilt werden, die so genannte Gasumlage. Mit diesem und anderen Gesetzen kann der Bundestag in diesem Herbst und Winter also noch viele Einschränkungen im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und privaten Leben einführen.
Infektionsschutz in der Corona-Pandemie
Auch die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie der Staat auf Notlagen reagieren kann. Beim ersten Shutdown 2020 nutzten die Bundesländer für ihre Verordnungen eine ganz allgemeine Befugnis im Infektionsschutzgesetz (IfSG), die "notwendigen Schutzmaßnahmen" zu treffen. Die Bundesländer sprachen sich dabei in Bund-Länder-Runden ab, die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) moderiert wurden.
Erst im November 2020 konkretisierte der Bundestag das IfSG und listete 17 Grundrechtseingriffe auf, die zur Bekämpfung von Corona zulässig sind: von der Maskenpflicht bis zur Schließung von Restaurants. Erst seit diesem Zeitpunkt waren die Verordnungen der Länder an die Feststellung einer "epidemischen Lage" durch den Bundestag geknüpft. Nur zeitweise, ab April 2021, nahm der Bundestag den Ländern die Zügel aus der Hand und gab mit der "Bundesnotbremse" eigene Regeln vor. Diese traten aber schon im Juni 2021 wieder außer Kraft.
Ende November 2021 konnte sich die neue Ampel-Koalition nicht auf eine Verlängerung der "epidemische Lage" verständigen. Seitdem bestimmt der Bundestag im Infektionsschutzgesetz, welche Einschränkungen die Länder maximal vorsehen dürfen. Zielrichtung des Bundes-Gesetzgebers ist jetzt, Infektionsschutz-Maßnahmen zu begrenzen. Das sind politische Entscheidungen, die nicht rechtlich vorgegeben sind. Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2021 in seinem Beschluss zur Bundesnotbremse vielmehr klargestellt, dass der Gesetzgeber in einer Pandemie einen weiten Einschätzungsspielraum für die notwendigen Maßnahmen hat.
Beispiel Flüchtlingskrise: Offenhalten der deutschen Grenzen
Denkbar ist aber auch, dass der Staat bewusst auf bestimmte Maßnahmen verzichtet, die von anderer Seite unter Verweis auf eine angebliche Notlage gefordert werden. Ein Beispiel dafür ist die Flüchtlingskrise ab 2015, als Kanzlerin Merkel durchsetzte, die deutschen Grenzen offenzuhalten - trotz Rekordzahlen an Neu-Ankömmlingen, insbesondere aus Syrien. Sie wollte so eine Überlastung der südlichen EU-Staaten verhindern. Dagegen versuchte der Ministerpräsident Bayerns Horst Seehofer (CSU), die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze durchzusetzen, mit dem Argument Deutschland - insbesondere Bayern - sei existenziell überlastet. Seehofer drohte eine Verfassungsklage an und sprach in einem Interview von einer "Herrschaft des Unrechts". Er reichte letztlich aber doch keine Verfassungsklage ein, denn der von ihm beauftragte Gutachter, der Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio, hatte die Bundesregierung zwar heftig kritisiert, ihr aber einen großen Einschätzungsspielraum zugestanden.
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Im Laufe des Jahres 2016 nahm der Flüchtlingszustrom wieder ab, so dass sich alle Spekulationen über eine Grenze der Belastbarkeit Deutschlands erübrigten. Grund für den Rückgang neu ankommender Flüchtlinge waren keine deutschen Maßnahmen, sondern die Schließung der so genannten Balkan-Route durch die osteuropäischen EU-Staaten. Die deutschen Grenzen sind bis heute offen und die Ankunft von Hunderttausenden Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Jahr zeigte, wie selbstverständlich die Aufnahme großer Zahlen von Flüchtlingen möglich ist. Es ist also auch eine politische Frage, ob der Staat eine Situation als Notlage wahrnimmt und auf sie reagiert.
Der Autor ist freier rechtspolitischer Korrespondent, unter anderem für die "taz".