Landtagswahl in Thüringen : Im Landtag in Erfurt dürfte es kompliziert bleiben
Die politische Lage in Thüringen ist besonders verworren. Das könnte auch nach der Landtagswahl am 1. September so bleiben.
Wer verstehen will, warum die politische Zukunft in Thüringen kompliziert werden dürfte, der muss sich erstens die vergangenen fünf Jahre ansehen. Und zweitens die Erhebungen zur politischen Stimmung in jenem ländlich geprägten Land, in dem zwar nur etwa 2,1 Millionen Menschen leben, das in den vergangenen Jahren aber immer wieder ein Seismograph für politische Entwicklungen gewesen ist.
Der Blick auf die vergangenen fünf Jahre ruft in Erinnerung, dass es in Thüringen seit der Landtagswahl 2019 keine klassischen parlamentarischen Mehrheiten mehr gibt. Nachdem die rot-rot-grüne Koalition ihre zwischen 2014 und 2019 bestehende Ein-Stimmen-Mehrheit verloren hatte, regieren Linke, SPD und Grüne im Freistaat über ein Modell, bei dem die Koalitionsfraktionen im Parlament eine Minderheitsregierung tragen. Dabei fehlen Rot-Rot-Grün vier Stimmen für eine parlamentarische Mehrheit, was im Februar 2020 den "Dammbruch von Erfurt" überhaupt erst möglich gemacht hat.
Der "Dammbruch von Erfurt"
Gegen den Willen der Minderheitskoalition wurde damals der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt, weil diese drei oppositionellen Fraktionen - wenn sie sich einig sind - über mehr Stimmen im Landesparlament verfügen als die Koalition.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow muss um sein Amt fürchten. Seine Partei Die Linke liegt in Umfragen deutlich hinter AfD, BSW und Union.
Obwohl Kemmerich damals nach wenigen Tagen infolge massiven politischen Drucks zurücktreten musste und im März 2020 der Linken-Politiker Bodo Ramelow erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat sich an dem Kräfteverhältnis nichts verändert: Linke, SPD und Grüne sind für alles, was sie durch den Erfurter Landtag bringen wollen, auf die Opposition angewiesen.
Die Union hat die Minderheitsregierung faktisch geduldet - ohne es so zu nennen
Das hat in den vergangenen Jahren bedeutet, dass sich die Koalition mit der CDU auf Kompromisse einigen mussten, die die rot-rot-grüne Minderheitsregierung de facto toleriert hat - auch wenn der CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende in Thüringen, Mario Voigt, Formulierungen wie "Tolerierung" oder "Duldung" vehement ablehnt, um das Verhältnis zwischen Rot-Rot-Grün und der Union zu beschreiben. Viel lieber spricht Voigt davon, seine Fraktion habe in einer schwierigen Zeit die Rolle einer "konstruktiven Opposition" eingenommen. Ungeachtet dessen ist es mehr als einmal vorgekommen, dass die Opposition im Landtag gegen den Willen der regierungstragenden Fraktionen Fakten geschaffen hat. Beispielsweise haben CDU, FDP und AfD gemeinsam die Grunderwerbssteuer in Thüringen von 6,5 Prozent auf 5 Prozent gesenkt.
Die Landtagswahl in Thüringen auf einen Blick
📅 In Thüringen sind am 1. September 2024 rund 1,66 Millionen Bürgerinnen und Bürger ab 18 Jahren zur Wahl aufgerufen.
👩💼 👨💼 Der Thüringer Landtag in Erfurt hat regulär 88 Sitze. Die Legislaturperiode beträgt fünf Jahre.
🗳️ Gewählt wird mit Erststimme (Wahlkreis) und Zweitstimme (Liste). Überhang- und Ausgleichsmandate sind möglich.
Im Vergleich zur Krise 2020 blieb das bundesweite Entsetzen über das gemeinsame Abstimmungsverhalten von CDU, FDP und AfD in dem Fall gering. Das ist bemerkenswert, weil die Thüringer AfD im Februar 2020 vom Landesverfassungsschutz noch nicht als erwiesen rechtsextrem eingestuft worden war, zum Zeitpunkt der Senkung der Grunderwerbssteuer im September 2023 aber schon.
Die Bilanz der Minderheitsregierung ist durchmischt
Die politische Bilanz der vergangenen Jahre in Thüringen ist nicht zuletzt angesichts solcher Begebenheiten durchmischt. Einerseits ist das Land nicht im Chaos versunken, worauf Ramelow in den vergangenen Wochen immer wieder hingewiesen hat. Mehr als 50 Mal habe sich Rot-Rot-Grün im Landtag entweder mit der CDU oder der FDP oder auch mit beiden politischen Kräften allein zwischen Mai 2023 und Juni 2024 auf Dinge verständigt, die dann gemeinsam "durchs Ziel gebracht" worden seien.
Das "Bündnis Sahra Wagenknecht" könnte in Thüringen zu einem Machtfaktor werden. Die junge Partei um Spitzenkandidatin Katja Wolf kommt in Umfragen auf 20 Prozent.
Zu den Dingen, auf die Ramelow verweist, gehören zum Beispiel die Einführung eines Sinnesbehindertengeldes, die Neuwahl des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung des SED-Unrechts, die Wahl eines neuen Datenschutzbeauftragten, die Überarbeitung der Rechtsgrundlage zum Krebsregister des Landes, eine Überarbeitung des Brand- und Katastrophenschutzgesetzes und die Verbesserung des Betreuungsschlüssels für Kindergartenkinder.
Ministerpräsident Ramelow zeigt sich ernüchtert von Minderheitsregierung
Andererseits aber ist selbst Ramelow inzwischen ernüchtert davon, was sich mit einem Minderheitsmodell erreichen lässt und wie groß der Abstimmungsbedarf ist, dass nicht einmal er sich eine Neuauflage wünscht. "Eine Minderheitsregierung ist wirklich keine Freude", räumte er jüngst ein. "Und ich würde auch keinem anderen raten, auf eine Minderheitsregierung zu setzen." Voigt äußerte sich ähnlich, Thüringen brauche eine stabile Mehrheit, sagte er. Nur Kemmerich und AfD-Vertreter wie der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Torben Braga, zeigen sich mehr oder weniger offen für eine Fortsetzung des Minderheitsmodells im Landtag.
Insbesondere aus Sicht der AfD macht das Sinn, weil deren Fraktion in den vergangenen Jahren eine viel größere Gestaltungsmacht hatte, als das in einer klassischen Konstellation möglich gewesen wäre. Der Blick auf die Meinungsumfragen legt nahe, dass es nach der Wahl am 1. September wieder kompliziert werden könnte, womöglich erneut mit einer Minderheitskoalition. Denn klassische, in der bundesdeutschen Geschichte etablierte Koalitionen sind ausweislich einer INSA-Umfrage vom 26. Juni 2024 nicht in Sicht.
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Das hat mit der Stärke der AfD zu tun, die auch wegen der emotionalen Migrationsdebatte auf etwa ein Drittel der Sitze im Parlament hoffen kann (29 Prozent), sowie mit dem zu erwartenden Abschneiden des BSW. Der neu gegründeten Partei werden in der Umfrage 20 Prozent der Zweitstimmen vorhergesagt. Die CDU liegt bei rund 22 Prozent. Die Linke droht massiv an Stimmen zu verlieren, obwohl sie den Ministerpräsidenten stellt. Sie kommt in der Umfrage nur auf 14 Prozent im Vergleich zu 31 Prozent 2019. Die SPD könnte demnach mit rund 7 Prozent die Fünf-Prozent-Hürde relativ knapp überwinden, FDP (2 Prozent) und Grüne (4 Prozent) könnten daran sogar scheitern. Unkompliziert war die politische Lage in Thüringen noch nie. Daran wird sich wohl auch nach der Landtagswahl nichts ändern.
Der Autor ist freier Journalist in Thüringen.