Migration : "Neustart" à la Ampel
Einwanderung , Bleiberecht, Einbürgerung: Die Koalition will Zuwanderung neu gestalten.
Der Kanzler hat zuletzt lobende Worte gefunden. In seiner wöchentlichen Videobotschaft "Kanzler kompakt" sprach Olaf Scholz über die geplante Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und lobte dabei jene Gruppe von Menschen, die man früher "Gastarbeiter" nannte. "Frauen und Männer, die nach Deutschland eingewandert sind, haben viel dazu beigetragen, dass die Wirtschaft so stark ist", sagte der SPD-Politiker. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte sich zuvor ähnlich ausgedrückt. Mit der erleichterten Einbürgerung wolle man die besondere Lebensleistung von Menschen würdigen, sagte sie - und meinte damit in erster Linie die türkisch-stämmigen Mitbürger, deren Zahl in Deutschland durch Kinder und Kindeskinder mittlerweile auf drei Millionen angewachsen ist.
Sowohl Scholz als auch Faeser sind gleichzeitig mit Hilferufen aus Ländern und Kommunen konfrontiert, die nicht mehr wissen, wie sie die zahlreichen Flüchtlinge des Jahres 2022 noch unterbringen sollen. Daran sieht man: Das Thema Migration bewegt einmal mehr die Republik - und das aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Da sind zunächst die vielen Schutzsuchenden, die Deutschland seit Jahresanfang erreichten - und die manche an 2015 und die Folgejahre erinnern, an eine Zeit also, die als "Flüchtlingskrise" bekannt geworden ist. Zwar kommt rund eine Million von ihnen aus der Ukraine. Geflüchtete von dort werden durchweg als Kriegsflüchtlinge anerkannt. Und sie sind - sieht man von vereinzelten Feindseligkeiten und Anschlägen auf Unterkünfte in Sachsen oder Thüringen ab - nicht nur akzeptiert, sondern werden vielfach auch in privaten Wohnungen willkommen geheißen.
Notunterkünfte müssen neu errichtet werden
In den ersten zehn Monaten registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aber zugleich rund 181.000 Asylanträge von Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei - allein im Oktober waren es mehr als 26.000. Damit liegt die Gesamtzahl der Geflüchteten mit etwa 1,2 Millionen deutlich über der des Jahres 2016, als sie rund 745.000 betrug. Auch wenn viele Ukrainer privat unterkommen: Städte und Gemeinde stoßen nun an Grenzen.
Das gilt einerseits mit Blick auf die verfügbaren Immobilien. So müssen bundesweit neuerdings wieder Notunterkünfte errichtet werden - und dies ungeachtet der Tatsache, dass die Bundesregierung mit eigenen Immobilien aushilft. Es gilt andererseits fürs Finanzielle. Die Ampelkoalition hat Ländern und Kommunen zwar Anfang November 4,5 Milliarden Euro an Unterstützung in Aussicht gestellt. Doch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte den Bedarf zuvor schon auf acht Milliarden Euro beziffert. Dabei hatte die zielgerichtete Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur, die weitere Menschen in die Flucht treiben dürfte, seinerzeit noch gar nicht begonnen.
Wie viele Menschen in den nächsten Monaten zusätzlich Schutz in Deutschland suchen werden, ist auch deshalb eine offene Frage. Es hängt vom Fortgang des russischen Krieges gegen die Ukraine und der Leidensfähigkeit ihrer Bewohner ab. Tatsächlich reisten zuletzt ungefähr so viele Ukrainer aus dem Land in die Europäische Union ein, wie von der EU in die Ukraine ausreisten, nämlich binnen zehn Tagen im Schnitt 31.000.
Auf die europäische Solidarität zu setzen, schein illusorisch
Die Gesamtflüchtlingszahl hängt zudem davon ab, ob es gelingt, als illegitim betrachtete Migration aus Osteuropa, über die Balkan-Route oder das Mittelmeer zu unterbinden. Grenzkontrollen zu Österreich und Schleierfahndung an der Grenze zu Tschechien werden das Problem allein nicht lösen - zumal dann nicht, wenn Russland, Belarus, die Türkei und bisweilen anscheinend auch Serbien versuchen, Flüchtlinge als "Waffe" gegen den Westen einzusetzen.
Nur eines ist ziemlich offenkundig: Auf europäische Solidarität zu setzen, scheint illusorischer zu sein denn je. Über den EU-Solidaritätsmechanismus wurden zuletzt lediglich 117 Frauen, Männer und Kinder umverteilt. Besserung ist nicht in Sicht.
Umsetzung des Koalitionsvertrages
Parallel zu diesem Prozess der erneut verstärkten Zuwanderung sowie ihrer Begrenzung läuft in Deutschland derzeit noch ein anderer Prozess: der Versuch, jene Migration, die überwiegend längst stattgefunden hat, neu zu gestalten. Was SPD, Grüne und Liberale im Koalitionsvertrag verankert haben, wird allmählich in die Tat umgesetzt.
Es begann mit dem "Chancen-Aufenthaltsrecht" (20/3717, 20/4700), das der Bundestag vergangene Woche beschlossen hat. Es soll helfen, mit den "Kettenduldungen" Schluss zu machen, und könnte eine Hilfe für all jene sein, die am 31. Oktober 2022 fünf Jahre oder länger in Deutschland gelebt haben und sich bisher von einer Duldung zur nächsten hangeln. Wer nicht straffällig geworden ist, hat dann 18 Monate Zeit, ein längerfristiges Aufenthaltsrecht zu bekommen. Betroffene müssen dafür einen Identitätsnachweis und Deutschkenntnisse vorweisen sowie ihren Lebensunterhalt selbst sichern können. Theoretisch sind dies zirka 137.000 Menschen.
Dabei hat die Reform aus Sicht der Befürworter drei Vorteile: Sie entlastet die Betroffenen, sie entlastet die Behörden - und sie entlastet womöglich den Arbeitsmarkt, auf dem immer mehr Branchen händeringend Arbeitskräfte suchen. So könnte auch verhindert werden, dass gut integrierte, aber offiziell abgelehnte Asylbewerber plötzlich abgeschoben werden, weil ihre Duldung erlischt und eine Abschiebung zum Beispiel aufgrund veränderter Bedingungen im Heimatland oder einer geheilten Krankheit möglich wird.
Trennwände stehen Mitte November dieses Jahres in der Messehalle 4 der Messe Dresden, die Flüchtlingen als vorübergehende Unterkunft dient.
Faeser sprach mit Blick auf das Gesetzespaket von einem "Neustart in der Migrationspolitik". Dazu gehören noch eine Reihe weiterer Neuregelungen. So wird gut integrierten Jugendlichen und jungen Volljährigen schon nach dreijährigem Aufenthalt in Deutschland sowie bis zum 27. Lebensjahr ein Bleiberecht ermöglicht. Um besondere Integrationsleistungen von Geduldeten zu honorieren, winkt dafür künftig nach sechs statt bisher acht Jahren Aufenthalt ein Bleiberecht - oder schon nach vier Jahren statt bislang sechs, wenn sie mit minderjährigen Kindern zusammenleben.
Erleichtert werden sollen daneben vor allem bei Straftätern und Gefährdern die Ausweisung und die Anordnung von Abschiebungshaft - ein erster Schritt der im Koalitionsvertrag angekündigten "Rückführungsoffensive".
Asylverfahren sollen schneller werden
Ebenfalls in der vergangenen Woche verabschiedete das Parlament einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Asylverfahren (20/4327, 20/4703). Er sieht unter anderem vor, dass die sogenannte Regelüberprüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgeschafft wird. Bei dieser Prüfung wird bisher nach einer bestimmten Frist automatisch nachgehalten, ob es Gründe für einen Widerruf positiver Asylbescheide gibt. Die Überprüfung soll künftig nur noch "anlassbezogen" erfolgen.
Auch sollen Asylbewerber eine behördenunabhängige Beratung in Anspruch nehmen können. Mit der Asylverfahrensberatung sollen zivilgesellschaftliche Akteure betraut werden, die dafür Geld vom Bund erhalten. Für das Jahr 2023 sind dafür 20 Millionen Euro veranschlagt. Ab 2024 wird mit 80 Millionen Euro pro Jahr kalkuliert.
Kürzer werden sollen schließlich die Asylklageverfahren bei den Verwaltungsgerichten, die laut Bundesregierung aktuell im Schnitt 26,6 Monate dauern. Hier soll unter anderem eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung Abhilfe schaffen. Ziel dabei ist, dass häufig vorkommende gleich gelagerte Fälle - zum Beispiel zu Kriegsdienstverweigerern aus Syrien oder in Griechenland bereits anerkannten Flüchtlingen - künftig nicht mehr von verschiedenen Oberverwaltungsgerichten unterschiedlich bewertet werden. Stattdessen sollen diese die Verfahren direkt an das Bundesverwaltungsgericht abgeben können, das dann eine Entscheidung mit richtungsweisendem Charakter trifft. Zum 31. Juli dieses Jahres waren laut Bundesinnenministerium bundesweit 135.603 erstinstanzliche Verfahren anhängig.
Beide Gesetze könnten eventuell die vergiftete Asyldebatte entgiften, in der Kritiker stets darauf verweisen, dass viele Flüchtlinge in Deutschland bleiben dürften, obwohl sie streng genommen gar nicht das Recht dazu hätten. So oder so würde die Zahl der umstrittenen Fälle reduziert. Das Bamf hätte weniger Arbeit, die Gerichte ebenfalls - Betroffene hätten indes auch weniger Klagechancen.
Staatsbürgerschaftsrecht soll neu geregelt werden
Auf den Weg gebracht ist auch der Entwurf für ein neues Staatsbürgerschaftsrecht, welches das auch hier federführende Bundesinnenministerium soeben in die Ressortabstimmung gegeben hat. Statt wie bislang nach acht Jahren sollen Ausländer künftig nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten können. Bei "besonderen Integrationsleistungen" soll dies sogar schon nach drei Jahren möglich werden - etwa dann, wenn Einwanderer besondere schulische oder berufliche Leistungen oder ehrenamtliches Engagement gezeigt haben oder besonders gut Deutsch können.
In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern sollen automatisch Deutsche werden, wenn ein Elternteil bereits seit fünf Jahren "seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt" in Deutschland hat. Bislang war das erst nach acht Jahren der Fall. Bei Senioren, die älter als 67 Jahre alt sind, will das Ministerium die bisher verlangten formellen Sprachnachweise streichen. Dafür soll künftig die "Fähigkeit zur mündlichen Verständigung" ausreichen. So soll die besondere Lebensleistung der Gastarbeitergeneration gewürdigt werden.
Zu guter Letzt soll der Besitz mehrerer Staatsbürgerschaften mit der Reform einfacher werden. Der alte Rechtsgrundsatz entspreche schon länger nicht mehr der geltenden Praxis, heißt es.
Die Zuwanderung von Fachkräften soll erleichtert werden
Als vorläufig letztes Projekt auf der Agenda steht die Neuregelung der Fachkräfteeinwanderung, zu der das Bundeskabinett jetzt Eckpunkte beschlossen hat; die entsprechenden Gesetzesvorlagen sollen Anfang kommenden Jahres folgen. Ziel ist es, Deutschland angesichts des massiven Fachkräftemangels für deutlich mehr Arbeitskräfte auch aus Staaten außerhalb der Europäischen Union attraktiver zu machen und Hürden abzubauen. Immerhin stehen dem deutschen Arbeitsmarkt nach jüngsten Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ohne Fachkräfteeinwanderung und steigende Erwerbsquoten im Jahr 2035 durch den demografischen Wandel mehr als sieben Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung.
Das Eckpunktepapier sieht unter anderem vor, dass ausländische Fachkräfte künftig jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können, eine Kauffrau für Büromanagement etwa kann dann auch als Fachkraft im Bereich Logistik arbeiten. Hat ein Drittstaatsangehöriger einen in seinem Herkunftsland anerkannten zweijährigen Berufsabschluss und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung, soll er auch dann nach Deutschland einwandern und hier arbeiten dürfen, wenn sein Abschluss hierzulande formal nicht anerkannt ist - sofern er einen Arbeitsvertrag hat. Wer keinen Arbeitsvertrag hat, soll über ein Punktesystem eine "Chancenkarte" erhalten können, mit der er einreisen und sich einen Job in der Bundesrepublik suchen darf. Zu den Auswahlkriterien des Punktesystems können Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter gehören. Zudem soll bei akutem Arbeitskräftemangel in Bereichen ohne spezielle Qualifikationsanforderungen ein neuer Weg in kurzzeitige Beschäftigung eröffnet werden.
Sind die Regierungspläne erfolgreich, könnte die Arbeitsmigration nach Deutschland nicht nur dem hiesigen Fachkräftemangel entgegenwirken, sondern auch die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik weiter steigen lassen. Sie nimmt ohnedies stetig zu. Im vergangenen Jahr waren es laut Statistischem Bundesamt 22,3 Millionen und damit 27,2 Prozent - bei steigender Tendenz.