Medizin : Recht auf Fakten
Breite Mehrheit für die Abschaffung des sogenannten Werbeverbots für Abtreibungen. Ärzte dürfen künftig ausführlich informieren.
Die Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel aus Gießen kämpfte jahrelang für die Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 219a.
Kristina Hänel auf der Besuchertribüne des Bundestages dürfte erleichtert gewesen sein. Die Allgemeinmedizinerin aus Gießen kämpft seit Jahren gegen das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen nach Paragraf 219a Strafgesetzbuch (StGB), das am Freitag mit breiter Mehrheit und unter lautem Jubel vieler Abgeordneter gestrichen wurde.
Hänel ist wegen Verstoßes gegen die Regelung sogar zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie auf ihrer Homepage über die Möglichkeit eines Abbruchs informiert hatte und darüber, dass sie selbst einen Abbruch vornehmen kann. Aus Sicht Hänels war die bisherige Rechtslage für Ärzte und Frauen gleichermaßen prekär, denn Mediziner riskierten eine strafrechtliche Verfolgung, Frauen riskierten ihre Gesundheit. Bei ihrem unfreiwilligen Gang durch die Instanzen der Gerichte machte ihr ausgerechnet ein Richter Mut, der sie verurteilte. Er sagte, sie solle das Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf für ein besseres Gesetz.
Umstrittener Paragraf wird gestrichen
Nun ist das Gesetz da, mit dem alles besser werden soll. Für den Gesetzentwurf der Bundesregierung votierten SPD, Grüne, FDP und Linke; Union und AfD stimmten dagegen. Mit der Neuregelung wird Paragraf 219a StGB (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft) gestrichen. Urteile, die aufgrund dieser Norm erlassen worden sind, sollen aufgehoben werden. Um zu verhindern, dass unsachlich oder sogar anpreisend für Schwangerschaftsabbrüche geworben wird, soll der Anwendungsbereich des Heilmittelgewerbegesetzes (HWG) auf Schwangerschaftsabbrüche ohne Krankheitsbezug erweitert werden. Künftig soll die Möglichkeit der Information über medizinisch indizierte und medizinisch nicht indizierte Schwangerschaftsabbrüche gleichermaßen im Rahmen der allgemeinen Vorgaben des HWG bestehen.
In der kontroversen und emotionalen Schlussdebatte hob Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) die Bedeutung der Reform hervor. In der digitalen Moderne informierten sich betroffene Frauen zuerst im Internet; dort könne jeder Troll oder Verschwörungstheoretiker alle möglichen Informationen verbreiten. Dass ausgerechnet hochqualifizierten Ärzten bislang untersagt werde, sachliche Informationen für ungewollt schwangere Frauen bereitzustellen, sei absurd, aus der Zeit gefallen und ungerecht. Er versicherte: "Es wird keine kommerzialisierende und banalisierende Werbung geben."
Auch Redner von Grünen, Linken und SPD äußerten sich erleichtert über die gesetzliche Änderung. Dirk Wiese (SPD) sagte, mit der Abschaffung des Paragrafen 219a folge die Koalition einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung. Verbote führten nur dazu, dass es Frauen schwer gemacht werde, eine Entscheidung zu treffen. Wiese erinnerte daran, dass der Strafrechtsparagraf 219 schon sehr lange bestehe und ebenso lange über Sinn und Unsinn der Regelung gestritten werde. Es müsse nun endlich ein neues Kapital aufgeschlagen werden.
Recht auf Aufkärung
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sprach von einem großartigen Tag für Ärzte und Frauen. Frauen hätten ein Recht auf ärztliche Auskunft, wie sie eine ungewollte Schwangerschaft beenden könnten. Die Frauen suchten Rat, Ärzte wollten aufklären, über Methoden, Risiken und Komplikationen. Paus rügte, der Paragraf 219a habe ein zutiefst menschliches Ereignis unmenschlich sanktioniert und bestraft. Mit der Abschaffung des Paragrafen 219a ende auch die jahrzehntelange Kriminalisierung und Stigmatisierung der Ärzte. Sie könnten künftig aufklären, wie sie es für geboten hielten. Paus forderte zugleich eine Debatte über den Abtreibungsparagrafen 218 StGB. Die Bundesregierung wolle dazu eine Kommission einsetzen. Sie plädierte außerdem dafür, den Abbruch zum Gegenstand im Medizinstudium zu machen.
AfD sieht Schutz des ungeborenen Lebens infrage stellt
Die AfD sieht in der Neuregelung den Schutz des ungeborenen Lebens infrage gestellt. Thomas Seitz (AfD) mutmaßte, es gehe nur vordergründig um das Werbeverbot. Tatsächlich solle das Verbot der Abtreibung infrage gestellt werden. Seitz rügte: "Ohne Not zerstört die Koalition einen für viele Menschen ohnehin nur schwer erträglichen Kompromiss."
Er erinnerte daran, dass pro Jahr und 100.000 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet würden. Angesichts dieser Zahl müsse die Frage gestellt werden, wie das Lebensschutzkonzept verbessert werden könne und nicht, wie man es zerschlägt. Er warnte: "Das auf das Leben gerichtete Beratungskonzept wird durch den Wegfall des Werbeverbots unterminiert." Zur sexuellen Selbstbestimmung gehöre im Übrigen auch, dass Frauen eigenverantwortlich dafür sorgen müssen, nicht schwanger zu werden, wenn sie dies nicht wollten.
Heftige Kritik kam auch von Rednern der Unionsfraktion. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) sagte, jeder könne die schwierige Lage der betroffenen Frauen nachempfinden; zu berücksichtigen sei aber auch das Lebensrecht des Kindes. Daher sollte an der bisherigen Regelung festgehalten werden. Sie betonte, es gehe nicht nur um sachliche Informationen auf der Homepage der Ärzte. Mit der Streichung des Paragrafen 219a werde eine "proaktive Werbung" im Internet und womöglich in Zeitschriften ermöglicht. Dies könnte den Eindruck erwecken, der Abbruch sei eine normale Behandlung.
Katrin Helling-Plahr (FDP) sagte, sie habe in ihrem eigenen Umfeld die Notsituation betroffener Frauen erlebt. Sie betonte, keine Frau mache sich die Entscheidung für eine Abtreibung leicht. Die Aufgabe der Politik bestehe darin, Frauen, Partner und Familien in solchen schwierigen Situationen zu unterstützen. Sie fügte hinzu: "Das bedeutet keine Abkehr vom Lebensschutzkonzept des Bundesverfassungsgerichts." Frauen dürften aber nicht alleingelassen werden. "Es besteht also gleichsam ein Informationsgebot." Da erscheine es doch geradezu aus der Zeit gefallen, ein mit Strafe bedrohtes Informationsverbot zu haben, das ausgerechnet Ärzte betreffe, die besonders befähigt seien, über medizinische Sachverhalte zu informieren.
Erster Schritt
Aus Sicht der Linken kann die gesetzliche Neuregelung nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer noch liberaleren Regelung. Heidi Reichinnek (Linke) nannte den Paragrafen 218 StGB, wonach Abbrüche grundsätzlich strafbar sind. "Das ist ein Skandal." Sie forderte: "Die Kriminalisierung von Schwangeren und Ärzten muss endlich aufhören." Nach dem Paragrafen 219a müsse auch Paragraf 218 abgeschafft werden.
Die Bundesregierung will mehr Rechtssicherheit beim Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen schaffen. Ratsuchende sollen mehr Informationen erhalten.
Die Regierung legt ihren Gesetzentwurf zur "Gehsteigbelästigung" vor. Die AfD wittert das Ende von Paragraf 218. Die CDU betont, es gebe keinen rechtsfreien Raum.
In eine andere Richtung bewegt sich die USA. Wie schon länger erwartet, kassierte der Oberste Gerichtshof vergangenen Freitag das seit rund 50 Jahren bestehende und vom Gericht einst selbst postulierte Recht auf Abtreibung. In konservativen Einzelstaaten dürften nun weitgehende Einschränkungen folgen.