Editorial : Vergiftete Debatten
Migration ist zweifellos ein Reizthema. Aber Verständigung ist notwendig, sonst werden konkrete Probleme nicht gelöst.
Zweifellos ist Migration ein Reizthema. Diskussionen über Integration und die Aufnahme von Geflüchteten enden auch in Familien und unter Freunden oft im Streit. Muss Zuwanderung begrenzt werden, weil sie unseren Wohlstand und unsere Sicherheit gefährdet? Oder ist sie eine humanitäre und volkswirtschaftliche Notwendigkeit, die weniger Probleme verursacht, als Verfechter einer restriktiven Migrationspolitik meinen? In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die Debatten im Deutschen Bundestag.
Kein anderes Politikfeld polarisiert so stark
Dass sich die politischen Lager dabei immer unversöhnlicher gegenüberstehen, hat gerade eine repräsentative Umfrage des Mercator Forum Migration und Demokratie an der TU Dresden in Deutschland und neun weiteren europäischen Ländern bestätigt. Kein anderes Politikfeld, nicht mal die Klimakrise, polarisiert Anhänger des linken und rechten Lagers danach vergleichsweise stark. In Deutschland ruft es bei Menschen, die sich dem rechten Spektrum zuordnen, eine besonders heftige emotionale Ablehnung gegenüber Andersdenkenden hervor.
"Migration ist kein Sonderfall. Sie gehört zu Deutschland, mit allen Herausforderungen, die sie mit sich bringt."
Für unsere demokratische Kultur, aber auch die Gesellschaft als Ganzes, sind vergiftete Debatten problematisch. Denn wo die Legitimität anderer Meinungen, solange diese sich im demokratischen Spektrum bewegen, infrage gestellt wird, ist eine Verständigung nicht mehr möglich, werden konkrete Probleme nicht gelöst.
24 Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
Das ist umso bedenklicher angesichts des Stellenwerts, den Migration in Deutschland seit Jahrzehnten hat. Aktuell leben hierzulande rund 24 Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Sie sind hierher eingewandert oder haben mindestens einen Elternteil, der nicht in Deutschland geboren ist. Das sind 28,7 Prozent der Bevölkerung, mehr als jede vierte Person. Bei Kindern unter fünf Jahren sind es mehr als 40 Prozent.
So wächst auch in den Parlamenten der Anteil Deutscher mit Migrationshintergrund. Allein im Bundestag sitzen quer durch alle Fraktionen mittlerweile 83 Abgeordnete, die ihre Wurzeln unter anderem in Polen, Tschechien, der Türkei, Marokko, Jemen oder dem Irak haben. Migration ist somit alles andere als ein Sonderfall, sie gehört zu Deutschland, mit allen Herausforderungen, die sie mit sich bringt. Darüber sachlich und lösungsorientiert zu diskutieren und zu berichten, ist eine der wichtigsten Aufgaben, die Medien, Regierungen und Parlamente haben.