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Mehrheit erst im zweiten Wahlgang : Wahlkrimi in Brandenburg

In Brandenburg ist die bundesweit erste Landesregierung aus SPD und BSW nach einem Holperstart im Amt. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) wurde vereidigt.

12.12.2024
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6 Min

Durchweg gelungen ist sie nicht, diese Premiere auf der Politikbühne. Aber jetzt steht Deutschlands erste rot-lila Koalition auf Landesebene. Brandenburg wird künftig von einem Kabinett aus SPD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) regiert, angeführt vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke. Vorangegangen war am Mittwoch im Potsdamer Landtag - auch das ein Novum - ein wahrer Wahlkrimi: Erstmals in der 34-jährigen Brandenburger Parlamentsgeschichte scheiterte ein Ministerpräsident im ersten Wahlgang.

Im zweiten Wahlgang 50 Stimmen für Woidke

Woidke erhielt in der geheimen Abstimmung zunächst nicht die erforderliche Mehrheit von 45 Stimmen, obwohl SPD und BSW zusammen über 46 der insgesamt 88 Mandate im Landtag verfügen. Nur 43 Abgeordnete votierten für ihn. Es gab 40 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen, zwei Stimmen waren ungültig.

Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Christoph Gollnow

SPD-Landeschef Dietmar Woidke nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten mit Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke. Der brandenburgische Landtag wählte Woidke erst im zweiten Wahlgang.

Erst in der zweiten Runde wurde der 63-jährige promovierte Agraringenieur aus der Lausitz im Amt bestätigt. Diesmal erhielt er sogar 50 Stimmen von den anwesenden 87 Parlamentariern, die damit den Weg freimachten für Woidkes vierte Amtszeit. Es gab 36 Gegenstimmen und eine Enthaltung. Woidke ist schon seit 2013 Ministerpräsident. Brandenburg wird seit 1990 mit wechselnden Partnern von der SPD regiert. 

BSW setzte Smartphone-Verbot an Grundschulen durch

Die “Generalprobe” war zuvor noch glatt über die Bühne gegangen: Bei Landesparteitagen nahmen sowohl SPD als auch BSW einstimmig den Koalitionsvertrag an, für den BSW-Bundesparteichefin Sahra Wagenknecht vor Ort in Potsdam geworben hatte. 

Das BSW, in Brandenburg erst im Mai gegründet und nur 50 Mitglieder stark, habe wichtige Akzente im Koalitionsvertrag gesetzt. An einigen Stellen seien der Woidke-SPD „Inhalte aufgezwungen“ worden, etwa ein Smartphone- und Tablet-Verbot in Grundschulen, eine kritische Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen und den Erhalt aller Krankenhaus-Standorte im Land.

Entlassung der Gesundheitsministerin im Bundesrat

Für Letzteres hatte Woidke unlängst in einer Machtdemonstration die bisherige Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) öffentlich düpiert. Er entließ sie auf dem Flur des Bundesrats, weil sie, anders als Woidke, für die Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) stimmen wollte.


„Ihr habt das wunderbar verhandelt.“
BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht über den Koalitionsvertrag in Brandenburg

Dafür gab es beim BSW-Parteitag Lob von Wagenknecht. Besonders hob sie vor den Delegierten aber hervor, dass das Thema Krieg und Frieden Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden habe. Es sei wichtig, dass das BSW in der Präambel verankert habe, dass der Ukraine-Krieg mit diplomatischen Mitteln beendet werden müsse. „Ihr habt das wunderbar verhandelt“, betonte die Parteigründerin.

Denkzettel wegen Formelkompromiss zum Thema Krieg und Frieden?

Aber genau dieser Formelkompromiss, die Ablehnung weiterer Waffenlieferungen an die von Russland völkerrechtswidrig angegriffene Ukraine, könnten der Grund sein, warum Woidke im ersten Wahlgang womöglich auch aus den eigenen Reihen einen Denkzettel verpasst bekam. Auch die Forderung des BSW, Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu beenden, sehen einige Sozialdemokraten mit Argwohn. 

Der bisherige SPD-Wirtschaftsminister Jörg Steinbach, der den US-amerikanischen E-Autobauer Tesla ins märkische Grünheide holte, hatte bereits in der Endphase der Koalitionsverhandlungen erklärt, dass er für einen Posten in einer SPD/BSW-Regierung nicht zur Verfügung stehe. Er begründete die Absage „insbesondere“ mit den politischen Positionen der BSW-Bundesspitze.

Schlechte Umfragewerte belasten die neue Koalition

Tatsächlich freuen sich laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) fast zwei Drittel der Brandenburger nicht über Deutschlands erste Koalition aus SPD und BSW. Nur 30 Prozent der Befragten finden das Bündnis gut oder sehr gut.

Woidke erklärte wiederum Ende November bei der Vorstellung des Vertragsentwurfs, ihm sei bewusst, dass es nicht nur innerhalb seiner Partei, sondern auch in der Bevölkerung Vorbehalte gegen ein Bündnis mit dem BSW gebe. Er gab sich pragmatisch und sagte: „Wir haben nicht vor, ein Außenministerium zu bilden.“ Es gehe darum, „für unser Land, für die Menschen in Brandenburg das Beste zu erreichen.“

Alles oder nichts im Wahlkampf der SPD

Eine Alternative gab es nach der Landtagswahl vom 22. September ohnehin nicht, da nur SPD und BSW zusammen auf eine knappe Mehrheit kommen und alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit der vom Landesverfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften AfD ausgeschlossen hatten.

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Die SPD setzte mit Spitzenkandidat Dietmar Woidke auf einen Alles-oder-nichts-Wahlkampf. Der Ministerpräsident hatte angekündigt, nicht mehr zur Verfügung zu stehen, sollte die SPD hinter der AfD landen. Am Ende reichte es für einen knappen Vorsprung. Mit Kollateralschäden: Linke und Grüne scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde, flogen genauso aus dem Landtag wie die Freien Wähler. 

Vier Fraktionen im neuen Potsdamer Landtag

Vor allem die Grünen, die die vergangenen fünf Jahre mit SPD und CDU in einer sogenannten Kenia-Koalition regierten, machten Woidkes Anti-AfD-Strategie dafür mitverantwortlich, beklagten, Leihstimmen an die SPD verloren zu haben. Die FDP, seit zehn Jahren nicht mehr Brandenburger Parlament vertreten, fiel auf ihren Tiefstwert von 0,8 Prozent.

So sind im 88-köpfigen Potsdamer Landtag, der sich bereits am 16. Oktober konstituiert hat, nur vier Fraktionen vertreten: Die SPD mit 32, die AfD mit 30, das BSW mit 14 und die CDU mit 12 Mandaten.

Mutmaßungen über einen Fall der “Brandmauer”

Das warf bei Woidkes Erfolg im zweiten Wahlgang am Mittwoch Fragen auf: Woher kamen plötzlich die nun sogar 50 Stimmen für ihn? CDU-Fraktionschef Jan Redmann, gescheiterter Herausforderer im Wahlkampf, der erster CDU-Ministerpräsident Brandenburgs werden wollte, äußerte die Vermutung, dass Woidke womöglich mit Stimmen der AfD wiedergewählt worden sei. 


„Dietmar Woidke ist nach Thomas Kemmerich der zweite Ministerpräsident, der mit den Stimmen der AfD ins Amt kommt.“
CDU-Fraktionschef Jan Redmann auf X

Es könnte ungeachtet von Woidkes Brandmauer-Kurs einen Deal zwischen SPD und AfD gegeben haben. „Dietmar Woidke ist nach Thomas Kemmerich der zweite Ministerpräsident, der mit den Stimmen der AfD ins Amt kommt“, schrieb Redmann auf der Plattform X. Aus der CDU habe es keine Zustimmung zu dieser Koalition gegeben.

AfD-Fraktionschef Hans-Christoph Berndt konterte: „Das ist ausgeschlossen. Jedermann weiß, dass die Stimmen für Woidke nur von der CDU gekommen sein können.“

Mischung aus alten und neuen Kräften im Kabinett

Und der neue, alte Ministerpräsident? Das seien „infame Unterstellungen“ der CDU, sagte er nach seiner Wiederwahl in Fernseh-Interviews. „Wir sollten uns auf die Aufgaben konzentrieren“, betonte Woidke und nannte einige Herausforderungen für die Regierung. Die wirtschaftliche Entwicklung müsse weiter auf einem guten Niveau gehalten werden. Zudem müsse das Land im Bildungsbereich besser und bei der Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt schneller werden.

Schaffen will der Regierungschef das mit einer Mischung aus teils bereits bewährten Ministerinnen und Minister aus seinem Vorgänger-Kabinett und den Neulingen vom BSW, die mit Finanzen, Infrastruktur und Gesundheit drei von neun Ressorts besetzen, die Staatskanzlei nicht mitgezählt.

Wer sitzt im ersten rot-lila Kabinett in Brandenburg?

🔴 Ministerpräsident: Dietmar Woidke (SPD)
🟣 Finanzen und Europa, Vize-Ministerpräsident: Robert Crumbach (BSW)
🔴 Leitung der Staatskanzlei: Kathrin Schneider (SPD)
🔴 Inneres und Kommunales: Katrin Lange (SPD)
🔴 Wirtschaft, Arbeit, Energie und Klimaschutz: Daniel Keller (SPD)
🟣 Infrastruktur- und Landesplanung: Detlef Tabbert (BSW)
🔴 Bildung, Jugend und Sport: Steffen Freiberg (SPD)
🔴 Justiz: Benjamin Grimm (SPD)
🔴 Wissenschaft, Forschung und Kultur: Manja Schüle (SPD)
🔴 Land- und Ernährungswirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz: Hanka Mittelstädt (SPD)
⚪️ Gesundheit und Soziales: Britta Müller (parteilos)



Ein Novum: Fachwissen kann über Parteibuch gehen. Staatssekretär im SPD-geführten Landwirtschaftsministerium wird der frühere Landesvorsitzende der FDP - ein Agrarexperte. Das BSW holt sich eine ausgewiesene Verkehrsfachfrau als Staatssekretärin ins Infrastrukturministerium – sie ist CDU-Mitglied.

So viel Osten wie nie in der Landesregierung

Und noch eine Premiere gab es in Potsdam: So viel Ostdeutschland war noch nie wie in Woidkes neuer, paritätisch mit Frauen und Männern besetzter Regierung. Abgesehen von BSW-Landesparteichef Robert Crumbach, dem neuen Finanz- und Europaminister, sind alle Mitglieder des Kabinetts im Osten geboren oder aufgewachsen. 

Auch Vize-Regierungschef Crumbach, von Beruf Arbeitsrichter und zuvor vier Jahrzehnte SPD-Mitglied, lebt und arbeitet seit 1991 in der Mark. Beim Parteitag mit Wagenknecht vor einer Woche hatte er, der gebürtige Wessi, versprochen: „Wir wollen darauf achten, dass Führungspositionen im Land endlich auch mit Ostdeutschen besetzt werden und Ostdeutsche und ihre Lebensleistungen nicht immer hinten runterfallen.“

Rot-Lila muss den Worten jetzt schnell Taten folgen lassen. Denn wenn am Sonntag Wahl wäre, käme die SPD laut dem jüngsten Brandenburg-Trend nur noch auf 28 Prozent (Landtagswahl 30,9), das BSW auf zwölf Prozent (Landtagswahl 13,5): Die beiden Parteien hätten keine Regierungsmehrheit mehr.

Die Autorin ist stellvertretende Chefredakteurin der "Potsdamer Neuesten Nachrichten".