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Foto: picture alliance/zumapress.com/Michael Candelori
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat eine neue Ära der Demokratie eingeleitet, der Beginn moderner republikanischen Staaten. Ihr Verfasser: Thomas Jefferson, der dritte US-Präsident.

248 Jahre Demokratie : Die Quelle des Westens

Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung ist nicht nur das Gründungsdokument der USA, sondern der westlichen Demokratien insgesamt. Doch diese Idee ist bedroht.

30.10.2024
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5 Min

Die Freiheitsstatue in New York, der Grand Canyon in Arizona, Disney World in Florida: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das Land der schier unbegrenzten Reisemöglichkeiten, von Naturschönheiten bis zu historischen Sehenswürdigkeiten. In Washington ragt der imposante Capitol Hill über die Hauptstadt. Das Parlamentsgebäude ist der Hort der ältesten existierenden Demokratie der Welt. So traf es nicht nur die USA, sondern Demokratiefreunde weltweit ins Mark, als ein aufgeputschter Mob am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmte. Gewählte Volksvertreter mussten aus dem Sitzungssaal des Senats um Leib und Leben fürchtend fliehen.

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"Amerika, du hast es besser?" Die polarisierte politische Stimmung lässt einen an diesen Worten zweifeln, die der größte deutsche Dichter 1827 den Vereinigten Staaten widmete. Goethe schrieb dies 51 Jahre, nachdem dreizehn britische Kolonien ihre Unabhängigkeit von König George III. und dessen Weltreich erklärt hatten, um einen Staat zu formen, der auf individuellen Freiheitsrechten fußen sollte, auf Gewaltenteilung und republikanischen Prinzipien.

Die Unabhängigkeitserklärung als Ausgangspunkt des Westens

Wer sich in diese Gründer-Zeit zurückversetzen will, kann sich in Amerikas Hauptstadt ins Auto setzen und rund zweieinhalb Stunden Richtung Südwesten fahren, vorbei an den saftgrünen Wiesen Virginias und den typischen weiß strahlenden Holzzäunen, durch kleine, gepflegte Städtchen und erreicht dann das beschauliche Charlottesville. In dessen Süden, getrennt durch die Interstate 64, findet sich ein echtes Juwel aus der Zeit der Gründerväter Amerikas. Kein Schloss liegt hier, keine Wallfahrtsstätte mit dem Grab eines Heiligen, sondern ein Bürgerhaus. Eine Farm. Monticello hieß das Heim und die Plantage des vielleicht wichtigsten Amerikaners neben George Washington: Thomas Jefferson, Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dem Gründungsdokument der USA. Diese Schrift ist Ausgangspunkt dessen, was später in der Weltordnung zum freien Westen wurde. Jeffersons Landgut zählt seit 1987 zum Weltkulturerbe.

Hier hängt noch immer das 1789 angefertigte Porträt John Lockes, jenes englischen Philosophen, der Jeffersons Denken prägte. Auf Locke geht die Idee der Gewaltenteilung zurück, staatliche Macht sollte in die ausführende Gewalt, die Exekutive, und die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, geteilt werden. Der Franzose Montesquieu übernahm diese Idee später, ergänzte sie mit der Judikative um eine dritte Gewalt. Diese Grundpfeiler eines republikanischen Systems von "Checks and Balances" wurden erstmals in der US-Verfassung verwirklicht.

Es ist "ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen"

Wer Jeffersons Spuren folgen will, der sollte von Monticello Richtung Norden fahren. Denn Jefferson verfasste das wichtigste Dokument seines Lebens nicht in Monticello, sondern in Philadelphia. Im National Constitution Center lässt sich nicht nur der historische Ort besuchen, an dem einst die Unabhängigkeit erklärt wurde. Gegenüber der Independence Hall steht auch die Liberty Bell, die Freiheitsglocke, mit der die Gründung Amerikas 1776 eingeläutet wurde.

Mit der Unabhängigkeitserklärung goss Jefferson in Philadelphia Lockes Philosophie erstmals in ein politisches Programm. Alle Menschen seien gleich geschaffen, von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet: dem Leben, der Freiheit und dem Streben nach Glück, schrieb Jefferson, um dann einen weiteren entscheidenden Punkt zu nennen: Zur Sicherung dieser Rechte werden Regierungen unter den Menschen eingerichtet.

Wofür der Staat da ist

König George III. habe seine Macht missbraucht, schreibt Jefferson weiter. Unter anderem habe er "den uns zugehörigen Teil der See geplündert, unsere Küsten verheert, unsere Städte niedergebrannt und das Leben unserer Leute vernichtet". Die Menschen hätten diese Übel lange erduldet. Aber nun sei es "ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen".

Was für ein Staatsentwurf! Er braucht keinen Gott, keinen Kaiser, keine Stände. Er braucht nur Bürgerinnen und Bürger. Der Staat ist für die Menschen da, soll inneren und äußeren Frieden garantieren. Die Menschen leben nicht, um einem König zu dienen oder das Vaterland groß zu machen. Sie sollen nicht für eine politische Ideologie oder eine gesellschaftliche Klasse sterben. Vielmehr leben sie als Individuen, und der Staat soll ebendiese Individualität schützen.

Foto: Thomas Jefferson Foundation at Monticello

Jeffersons Landgut in Virginia ist seit 1987 Weltkulturerbe.

Deutschland stieß nach 1945 zu dieser demokratisch geprägten Wertegemeinschaft des Westens, die 1776 in Philadelphia ihren Anfang nahm. Die Bundesrepublik nahm letztlich Anleihe bei Jefferson. Deutschland setzte erstmals in seiner Geschichte das Individuum mit seinen Grundrechten an die oberste Stelle. Artikel 1 des Grundgesetzes erklärt es zur "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Bei seiner Rede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes im Bundestag erklärte der Schriftsteller Navid Kermani 2014 dazu, das Grundgesetz kehre mit seinem ersten Satz "die Prämisse der vorherigen deutschen Verfassungen ins Gegenteil um und erklärt den Staat statt zum Telos nunmehr zum Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der Menschlichkeit im emphatischen Sinn".

Schon Goethe warnte vor Gespenstergeschichten

Das ist der Westen, seine Grundidee. Sicher, nicht immer wird diese gelebt. Die USA verteidigte sie zwar mit einem hohen Blutzoll nicht zuletzt im Krieg gegen Nazi-Deutschland. Aber sie führte auch höchst umstrittene Kriege. Jefferson hielt auf seiner beschaulichen Plantage in Monticello Hunderte von Sklaven. Erst in einem blutigsten Bürgerkrieg fand der grausame Menschenhandel ein Ende, und noch immer ist der Rassismus in den USA nicht völlig besiegt. "Amerikaner tun am Ende immer das Richtige, nachdem sie vorher alle anderen Möglichkeiten ausprobiert haben", soll Winston Churchill gesagt haben.

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Das Streben nach Glück der vielen Einzelnen hat die USA zur größten Wirtschaftsnation gemacht, bis heute zum Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt, nicht zuletzt für gut und hoch Qualifizierte. Die US-Verfassung ist die Quelle des Westens, die Vereinigten Staaten bilden die Festung der liberalen Welt, seit nunmehr 248 Jahren. Goethe, Jeffersons deutscher Zeitgenosse, beschrieb die Vorteile der Neuen Welt so: "Hast keine verfallene Schlösser/ Und keine Basalte./ Dich stört nicht im Innern,/ Zu lebendiger Zeit,/ Unnützes Erinnern/ Und vergeblicher Streit."

Heute erleben auch die USA Fake News, Populismus und politische Gewalt. Liberale republikanische Institutionen werden diskreditiert. Was schwante dem deutschen Dichtermeister, als er fortfahrend die Amerikaner 1827 mahnte: “Benutzt die Gegenwart mit Glück!/ Und wenn nun Eure Kinder dichten,/ Bewahre sie ein gut Geschick/ Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.”