Schattenseiten der Kindertransporte : Eine Geschichte von Rettung – und Vernachlässigung
Andrea Hammel forscht seit über 20 Jahren zum Kindertransport nach Großbritannien. Sie sagt, aus den Erlebnissen der Kinder damals können wir für heute lernen.
Großbritannien hat in den Jahren 1938 und 1939 rund 10.000 jüdische Kinder aufgenommen und sie so vor den Nationalsozialisten gerettet. In Ihrem Buch "The Kindertransport: What Really Happened" schreiben Sie, dass die britische Regierung damals dennoch nicht genug getan habe. Können Sie das erklären?
Andrea Hammel: Der Kindertransport war eine Befreiung von der Visumspflicht für unbegleitete Minderjährige. Damit das möglich war, hat die britische Regierung das Gesetz geändert. Nur so konnten Kinder aus Deutschland, dem annektierten Österreich, der Tschechoslowakei und Polen nach Großbritannien kommen. Doch zog sich die britische Regierung zurück: Die Organisation und die Finanzierung des Kindertransports hat die Regierung nicht übernommen – das hat sie freiwilligen Helfern überlassen. Der Kindertransport musste also durch Spenden von wohltätigen Organisationen und „normalen“ britischen Bürgern finanziert werden - wahrscheinlich haben Tausende Briten geholfen, die Kindertransporte möglich zu machen.
Was bedeutete das für den Kindertransport?
Andrea Hammel: Es wurden Kinder aufgenommen, die einen besonders guten Eindruck auf das Gastland machten und Kinder ausgeschlossen, die beispielsweise Verhaltensstörungen aufwiesen – man musste sich ja darauf verlassen, dass die Bevölkerung weiter spendet. Außerdem verlangte die britische Regierung, dass pro Kind eine Bürgschaft von 50 Pfund hinterlegt wird. Das entspricht heute etwa 4.000 Euro. So wurde die Zahl der aufgenommenen Kinder begrenzt.
Und die Kinder kamen in Pflegefamilien.
Andrea Hammel: Ja, die Pflegeeltern wurden nicht besonders gut ausgewählt und unterstützt. Die meisten Pflegefamilien haben versucht, ihr Bestes zu tun, aber es gibt dokumentierte Fälle von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung. Einige der älteren Kinder wurden in ihren Pflegefamilien ausgenutzt, zum Beispiel als günstige Arbeitskräfte oder als Babysitter.
Viele Pflegeeltern wussten nicht, worauf sie sich einlassen. Einige haben gedacht, dass sie die Kinder nur für einige Monate und nicht für mehrere Jahre bei sich aufnehmen würden. Andere hofften, die Kinder adoptieren zu können. Aber das war bei über 95 Prozent der Kinder nicht der Fall.
Viele der geretteten Kinder waren die einzigen in ihren Familien, die den Zweiten Weltkrieg überlebten. Einige von ihnen litten noch Jahre später unter Depressionen und Beziehungsstörungen. War Großbritannien damals bewusst, dass die Trennung der Kinder von ihren Eltern für beide Seiten traumatisch war?
Andrea Hammel: Das wurde immer wieder diskutiert. In den 1920er und 1930er Jahren war es weit verbreitet, dass Kinder nicht in ihrer Kleinfamilie aufwuchsen. Die Trennung von den Eltern war damals also nichts Neues. Viele wohlhabendere Familien schickten ihre Kinder zum Beispiel in Internate. Im Rahmen meiner Forschung habe ich Protokolle der Parlamentsdebatten zu den Kindertransporten gelesen. In einer Sitzung am 21. November 1938 sagte der damalige Innenminister Samuel Hoare: „I am aware of the terrible dilemma that the parents will experience“. Da wurde mir klar, dass die Regierung genau wusste, was sie tat.
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Mit einer Ausstellung erinnert der Bundestag an die 10.000 jüdischen Kinder, die 1938 und 1939 mit Kindertransporten aus Nazi-Deutschland gerettet wurden.
Hella Pick und Alf Dubs wurden als Kinder aus Wien und Prag per Zug nach London gerettet. Im Interview erinnern sie sich an die Reise und das Ankommen in der Fremde.
Sie forschen seit über 20 Jahren zu den Kindertransporten. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie nach all den Jahren der Beschäftigung gekommen?
Andrea Hammel: Die Geschichte ist komplex und die Kindertransporte sind nicht nur die Geschichte einer Rettung – so positiv wird das aber in der Erinnerungsarbeit in Großbritannien dargestellt. Es gibt viele Einzelgeschichten mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen für die geflüchteten Kinder. Manche haben ihre Eltern sehr schnell wiedergesehen. Doch die meisten haben ihre Eltern nie wieder gesehen – viele sind daran verzweifelt. Daraus können wir viel lernen.
Was zum Beispiel?
Andrea Hammel: Für Kinder ist es wichtig, sich gut in eine neue Gesellschaft zu integrieren und gleichzeitig die Verbindung zum Herkunftsland zu halten. Jungen und Mädchen der Kindertransporte, die ihre Muttersprache nicht vergessen haben und sich weiter an ihr Herkunftsland erinnern konnten, hatten später weniger psychische Probleme.
Auch Stabilität ist wichtig: Kinder sollten nicht von ihren Geschwistern getrennt werden. Für ältere Minderjährige hat es sich zudem positiv erwiesen, wenn sie in der Fremde nicht nur in einer Pflegefamilie, sondern in einer Gemeinschaft aufgewachsen sind. Kinder, die heute aus unterschiedlichen Gründen nicht mit ihren Eltern zusammen sind oder auf der Flucht sind, müssen wir mit aller Kraft unterstützen. Denn jeder Mensch hat das Recht auf Unversehrtheit und Leben.