Wahlrecht nach 1949 : Keine Wiederholung des größten Fehlers von Weimar
Der Parlamentarische Rat legte das erste Wahlrecht vor. Die Prinzipien von Verhältnis- und Mehrheitswahl konkurrierten in der Bundesrepublik von Anfang an.
Seifenwerbung zwischen Wahlplakaten im Sommer 1949
Die westalliierten Siegermächte beauftragten die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder, zum 1. September 1948 den Parlamentarischen Rat zu errichten. Er sollte die verfassungsrechtlichen Grundlagen für einen deutschen Weststaat schaffen, doch blieb von Beginn an ungeklärt, ob der Parlamentarische Rat oder die Ministerpräsidenten ein Wahlgesetz zur Wahl des ersten Bundestages erlassen sollten.
Während die westdeutschen Ministerpräsidenten wünschten, dass der Parlamentarische Rat ein solches Gesetz erarbeitet, lehnten die Militärregierungen, die sich auch die Genehmigung des Grundgesetzes vorbehielten, den Erlass eines Wahlgesetzes durch das Gremium ab. So verzichteten die Ministerpräsidenten darauf, den Parlamentarischen Rat offiziell mit der Abfassung eines Wahlgesetzes zu betrauen, duldeten aber seine Arbeit am Wahlgesetz.
Zunächst musste über das Wahlsystem entschieden werden
Am 15. September 1948 konstituierte sich der Wahlrechtsausschuss. Er behandelte bis zum 5. Mai 1949 elf verschiedene Wahlgesetzentwürfe; hinzu kam eine große Anzahl von Einzelanträgen und Petitionen. Die erste Verhandlungsphase war zunächst von der Entscheidung für ein Wahlsystem gekennzeichnet. Dabei konkurrierte das Prinzip der Verhältniswahl, bei der die Zahl der Mandate einer Partei exakt dem Verhältnis der für sie abgegebenen Wählerstimmen entspricht, mit dem Mehrheitswahlprinzip, bei dem derjenige Kandidat gewählt ist, der - wie beispielsweise in Großbritannien - in seinem Wahlkreis die relative Mehrheit gewinnt oder - wie etwa in Frankreich - die absolute Mehrheit, wofür gegebenenfalls eine Stichwahl der beiden Bestplatzierten erforderlich ist.
Im Parlamentarischen Rat legte die SPD einen ersten "Strukturentwurf" für ein Wahlsystem nach dem Verhältniswahlprinzip vor. Die FDP schlug ein absolutes Mehrheitswahlrecht vor, die CDU/CSU formulierte ein Wahlgesetz für ein relatives Mehrheitswahlsystem. Die KPD votierte für die Übernahme des Wahlgesetzes der Weimarer Republik mit einem reinen Verhältniswahlsystem.
Mitte Oktober 1948 legten sich CDU/CSU und die Deutsche Partei (DP) auf ein relatives Mehrheitswahlsystem fest, während die SPD und die Zentrumspartei als Kompromiss ein absolutes Mehrheitswahlsystem vorübergehend für annehmbar hielten. Ende November bildete sich eine Koalition von SPD, FDP und Zentrum, die bereit war, ohne die Union einen Wahlgesetzentwurf mit einem Verhältniswahlrecht zu verabschieden.
Am 2. Dezember 1948 berief die CDU/CSU-Fraktion Theophil Kaufmann zum Vorsitzenden des Wahlrechtsauschusses. Er war ein Gegner des reinen Mehrheitswahlrechts und suchte den Kompromiss mit der FDP, die ihrerseits der Union Zugeständnisse bei anderen Fragen machte, wenn diese sich für ein Verhältniswahlrecht aussprechen würde.
Die CDU/CSU präferierte die Persönlichkeitswahl
Zu einem Durchbruch kam es am 18. Januar 1949 mit einem Vermittlungsvorschlag der SPD, der das Verhältniswahlrecht vorsah, aber zugleich mit der Bildung kleiner Wahlkreise die Gesamtzahl der Wahlkreise erhöhte, in denen der Abgeordnete mit relativer Mehrheit gewählt würde. Damit war die von der CDU/CSU präferierte Persönlichkeitswahl gewährleistet. Der Wahlgesetzentwurf scheiterte jedoch im Plenum gegen die Stimmen von CDU/CSU und DP. Eine Fünf-Prozent-Sperrklausel hatte der Wahlrechtsausschuss schon im Oktober 1948 abgelehnt, wie auch später der Hauptausschuss und das Plenum.
Am 2. März 1949 erklärten die Alliierten, dass die Ministerpräsidenten das Wahlgesetz vorbereiten sollten. Im Übrigen präferierten sie die Wahlrechtsauffassung der CDU. Sie wollten ein Wahlgesetz verhindern, "das den größten Fehler Weimars, die Kleinparteien zu konservieren", wiederholen würde.
Die Ministerpräsidenten beauftragten wiederum den Parlamentarischen Rat, ein Modellgesetz zu verfassen und mit einer Zweidrittelmehrheit zu beschließen. Nach Zugeständnissen der Militärgouverneure am 14. April 1949 legte der Parlamentarische Rat einen neuen Gesetzentwurf vor, der das Verhältniswahlrecht festlegte, bereichert durch Elemente der Persönlichkeitswahl. Dieser Entwurf wurde am 10. Mai 1949 im Plenum verabschiedet. Die Ministerpräsidenten übernahmen ihn als "Modellgesetz" am 15. Juni 1949. Doch sie erhöhten die Anzahl der Mandate und führten - entgegen dem Beschluss des Parlamentarischen Rates - die Fünf-Prozent-Sperrklausel ein.
Michael F. Feldkamp arbeitet als Historiker in der Verwaltung des Deutschen Bundestages.