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"Normalität zwischen Juden und Nichtjuden kann nur im alltäglichen Miteinander beginnen", sagt der Theaterkritiker.

C. Bernd Sucher im Interview : "Er spuckte mir ins Gesicht"

Der Theaterkritiker C. Bernd Sucher sieht Deutschland als "unsichere Heimat" für Juden an. Die Lesung seines neuen Buches musste er unter Polizeischutz absolvieren.

10.11.2023
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8 Min

Herr Sucher, Sie haben Ihrem Buch über jüdisches Leben in Deutschland den Titel "Unsichere Heimat" gegeben. Das klingt bitter, denn Heimat steht eigentlich für Geborgenheit, Schutz und Zugehörigkeit. Welchen dieser Aspekte vermisst der jüdische Deutsche Bernd Sucher denn in seiner Heimat am meisten?

C. Bernd Sucher: Die Sicherheit. Die Heimat definiere ich über Kultur und Sprache und die bleibt natürlich. Aber die Heimat als Ort ist für mich als Jude sehr in Gefahr.

Ihre jüdische Mutter hat die Shoa nur knapp überlebt und war zutiefst traumatisiert. Die Folgen dieser Traumatisierung haben Sie in Form einer drakonischen Erziehung zu spüren bekommen. Eine jüdische Erziehung blieb Ihnen versagt, weil es Ihr protestantischer Großvater väterlicherseits untersagt hatte. So schildern Sie es in ihrem vor vier Jahren erschienenen Buch "Mamsi und ich". Traumatisiert in einem noch immer antisemitischen Land: Ist Ihre Kindheit und Jugend symptomatisch für die jüdische Nachkriegsgeneration?

C. Bernd Sucher: Diese Generation war definitiv traumatisiert. Aufgewachsen bin ich aber ohne antijüdische Ressentiments. Auch in meiner Schulzeit habe ich keinen Antisemitismus verspürt. Dies änderte sich mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel 1965. Als der erste israelische Botschafter in Deutschland im Audimax an der Münchner Uni während meiner Studienzeit einen Vortrag hielt, kam es zu Störaktionen linker Gruppen. Ich hatte mich damals gegen den Rat meiner Mutter entschieden, einen Davidstern als Anhänger zu tragen. Ein Kommilitone, mit dem ich Humanistik studierte und mit dem ich mich eigentlich gut vertrug, sah den Judenstern, spuckte mir ins Gesicht und beschimpfte mich als "Judenschwein". Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich in diesem Land gefährdet bin, wenn ich mich als Jude zu erkennen gebe. Und dies zog sich dann durch mein ganzes Leben. Als ich meine Karriere bei der "Süddeutschen Zeitung" begann, erhielt die Redaktion Leserbriefe, in denen gefragt wurde: "Braucht ihr diesen jüdischen Schmierfinken?"

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C. Bernd Sucher
wurde 1949 in Bitterfeld geboren. Nach dem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Romanistik war er zunächst Kulturredakteur bei der "Schwäbischen Zeitung", wechselte dann zur "Süddeutschen Zeitung", bei der er bis 1999 verantwortlicher Redakteur für das Sprechtheater und der erste Theaterkritiker war. Seit 1996 ist er Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitet an der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik.
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Sie beschreiben nicht nur den Antisemitismus in der Nachkriegszeit, sondern auch, dass Juden, die in Deutschland blieben, Anfeindungen von Juden aus dem Ausland ausgesetzt waren und mit der Frage konfrontiert wurden: "Wie könnt ihr nur im Land der Täter bleiben?" Wurden Sie auch mit dieser Frage konfrontiert oder haben Sie sich dieser Frage selbst gestellt?

C. Bernd Sucher: Ich wurde mit dieser Frage von Freunden aus meinem Berufsumfeld konfrontiert, die sich bereits vor vielen Jahren Wohnungen in Tel Aviv gekauft haben. Sie forderten mich auf, dies auch zu tun, weil Israel der einzige sichere Ort sei, wenn die Lage in Deutschland immer unerträglicher wird.

Israel hat sich stets als sicherer Rückzugsort für alle Juden weltweit verstanden. Hat sich das Gefühl von Unsicherheit auch für deutsche Juden nach den Massakern der Hamas verstärkt, weil Israel nun eben kein sicherer Rückzugsort mehr ist?

C. Bernd Sucher: Eine sichere Heimstätte ist Israel sicherlich nicht mehr. Das einzige, was Israel einem Juden bieten kann, ist der Umstand, dass es dort keine Antisemiten gibt. Ich selbst habe keine Wohnung in Israel. Für mich waren München und mein Domizil am Chiemsee immer Heimat, auch eine durchaus sichere Heimat. Aber die Morde der Hamas und die Welle von Antisemitismus auch hier in Deutschland zeigen mir, dass ich gefährdet bin. Die Tatsache, dass meine Buchpräsentation im Münchner Residenztheater unter Polizeischutz stattfand, zeigt mir das deutlich. Und es zeigt mir, dass es Menschen hierzulande gibt, die mich nicht reden lassen wollen. Das ist ein durchaus bedrohliches Gefühl.

Es ist mehrfach der Vorwurf erhoben worden, die Deutschen würden gegenüber Israel und den Juden nicht das gleiche Maß an Solidarität und Empathie aufbringen wie etwa gegenüber der Ukraine nach Beginn des russischen Angriffskrieges. Trifft dies zu?

C. Bernd Sucher: Dieser Vorwurf ist durchaus zutreffend. Nach Beginn des Krieges wurde beispielsweise in jedem Opernhaus vor Aufführungen die ukrainische Hymne gespielt und es wurden überall ukrainische Flaggen gehisst. In München hängen die immer noch. Nach den Attacken der Hamas gab es so etwas nicht. Es geht dabei nicht darum, dass man an Israel keine Kritik üben darf. Ich bin sehr dafür, die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland der Regierung Netanyahu zu diskutieren und zu kritisieren. Wenn es den Muslimen in Deutschland wichtig ist, dass Frieden herrscht, dann wäre es das einfachste, gemeinsam mit Juden in Deutschland für Frieden in Palästina und Israel zu protestieren. Doch eine solche Verbrüderung findet nicht statt. In München hat es diesen Vorschlag von jüdischer Seite gegeben, aber er wurde nicht angenommen.

In Deutschland wird aktuell viel über zugewanderten und islamistischen Antisemitismus diskutiert. Laufen wir Gefahr, darüber den "heimischen" Antisemitismus von Rechtsextremisten zu vernachlässigen?

C. Bernd Sucher: Ja! Wenn man die Bilder von den Anti-Israel-Demonstrationen sieht, dann laufen dort ja nicht nur Palästinenser mit, sondern auch viele Deutsche. Und es ist auch so, dass Rechtsextreme die Situation nutzen, um von ihrem eigenen Antisemitismus abzulenken oder Stimmung gegen Zuwanderung zu machen. Es gibt aktuell eine üble Gemengelage, in der sich rechte Antisemiten mit linken und zugewanderten Antisemiten zusammentun. Mitunter kann man sie auch gar nicht auseinanderhalten.


C. Bernd Sucher:
Unsichere Heimat.
Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute.
Piper,
München 2023;
272 Seiten, 24,00 €


In Ihrem Buch mahnen Sie und etliche Ihrer Interviewpartner wie der Rabbiner Tom Kucera oder der Historiker Norbert Frei mehr Bildung als einzig erfolgversprechendes Mittel gegen Antisemitismus an. Daran könnte man allerdings Zweifel haben, wenn man an die Bemerkung des formal gebildeten AfD-Politikers Alexander Gauland denkt, der Holocaust sei nur ein "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte gewesen.

C. Bernd Sucher: Da bin ich ganz bei Ihnen. Schon der Nationalsozialismus hat gezeigt, dass selbst gebildete Menschen zu Verbrechen fähig sind, von denen man glaubte, sie würden nie begangen. Bildung und Kultur können zwar durchaus auch Empathie erzeugen. Aber ein Selbstläufer ist das nicht. Man kann auch ein gebildeter Widerling sein.

Wenn vom Schutz jüdischen Lebens oder vom Existenzrecht Israels gesprochen wird, dann wird im gleichen Atemzug meist auf den Holocaust und die historische Verantwortung Deutschlands verwiesen. Ist das immer zielführend? Immerhin sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, nicht bedroht, beschimpft oder diskriminiert zu werden. Und auch das Existenzrecht anderer Staaten wie etwa der Ukraine ist doch ebenfalls deutsche Staatsräson.

C. Bernd Sucher: Das ist richtig. Das ständige Rekurrieren auf den Holocaust, die ständige Erinnerung an sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden kann mitunter sogar das Gegenteil von dem bewirken, was man eigentlich erreichen möchte. Es kann im schlimmsten Fall sogar neuen Antisemitismus produzieren, wenn sich jüngere Generationen immer wieder mit dieser historischen Schuld belastet fühlen. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Holocaust und der Gründung des Staates Israels. Aber mir ist es bei meinen Lesungen und Buchvorstellungen wichtig, mit jungen jüdischen und nichtjüdischen Menschen ins Gespräch zu kommen ohne ausschließlich in die Vergangenheit zu schauen.


„In der aktuellen Situation ist mir das Jüdischsein in Deutschland wichtiger als das Deutschsein. Das hätte ich vor wenigen Wochen so noch nicht formuliert.“
C. Bernd Sucher

In Ihrem Buch schreiben Sie durchgängig von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Sie haben offenbar ganz bewusst auf das Begriffspaar Deutsche und Juden verzichtet.

C. Bernd Sucher: Ja. Die in Deutschland lebenden Juden begreifen sich schließlich in erster Linie als Deutsche, die dem jüdischen Glauben anhängen oder jüdische Wurzeln haben. Allerdings ist mir in der aktuellen Situation nach den Attacken der Hamas das Jüdischsein in Deutschland wichtiger als das Deutschsein. Das hätte ich noch vor wenigen Wochen so nicht formuliert. Dies ist aber dem Augenblick geschuldet.

Der Rabbiner Walter L. Rothschild führt in Ihrem Buch an, für die Juden in Deutschland seien neben den Antisemiten und den unkritischen Philosemiten die Juden selbst ein Problem und spricht von "autoritären, unflexiblen und intoleranten Institutionen". Was meint er damit?

C. Bernd Sucher: Was er meint, ist gute jüdische Tradition: Eigentlich braucht es nur einen Juden, und der streitet sich mit sich selber. Eine Grundkonstante der jüdischen Religion ist, dass im Zusammenhang mit der Thora alles diskutiert und in Frage gestellt wird. Das führt dazu, dass die unterschiedlichen jüdischen Gemeinden und Gruppierungen sich untereinander immer stark kritisieren. Nichtjuden ist es mitunter schwer zu erklären, warum es unter den wenigen Juden in einer Stadt dann noch drei verschiedene Strömungen gibt, die sich so uneins sind über die Religion und ihre Ausübung sind.

Das ist in einem konfessionell so gespalteten Land wie Deutschland doch eigentlich nichts besonderes.

C. Bernd Sucher: Ja, aber erklären Sie mal der Bevölkerung, warum es in einer Stadt mit nur wenigen Juden gleich drei Synagogen gibt. Die Menschen fragen dann: Wenn ihr schon so wenige seid, könnt ihr nicht gemeinsam beten?

Sie beschreiben die Bandbreite jüdischen Lebens in Deutschland: Von Museen, Schulen, Gemeinden und Synagogen, Orchestern, Theatern und anderen Kultureinrichtungen. Dennoch kommen Sie zu dem Schluss, dass es kein lebendiges Miteinander von Juden und Nichtjuden gebe. Woran liegt das?

C. Bernd Sucher: In Deutschland leben schätzungsweise allenfalls zwischen 200.000 und 300.000 Menschen, die als jüdisch gelten können. Das ist eine verschwindend kleine Gruppe in einer Bevölkerung von 83 Millionen. Die wenigstens Nichtjuden kennen wissentlich einen Juden oder wissen etwas über das Judentum. Da kann der Funke nur schwer überspringen. Und selbst dort, wo Kontakte bestehen, fehlt es mitunter an den kleinen Dingen im Miteinander. Der Rechtswissenschaftler Moris Lehner erzählt im Interview, dass er von seinen Bekannten, die wissen, dass er Jude ist, nur äußerst selten gute Wünsche zu Rosch ha Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, erhält. Umgekehrt erwarten sie das von ihm zu Weihnachten und Silvester schon.

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Diskussionen über das Judentum in Deutschland verlaufen oftmals wenig entspannt. Entweder sie werden von den deutschen Verbrechen an den Juden überschattet oder durch den Nahost-Konflikt. Gibt es eine Möglichkeit, dies zu normalisieren?

C. Bernd Sucher: Ich will es mit einer Geschichte beantworten. Meine Nachbarn im Chiemgau wissen, dass ich Jude bin. Ich singe dort auch im Kirchenchor. Irgendwann fragten sie mich, ob sie denn mal einen Shabbat mitfeiern dürften. Also lud ich sie zu mir nach Hause ein. Aus dieser Begegnung ist eine Kulturwoche im Kloster Seeon hervorgegangen. Am Ende dieser Kulturwoche steht dann ein jüdisch-katholischer Gottesdienst in der Klosterkirche. Ich lese im Gottesdienst ein jüdisches Gebet und der katholische Pfarrer beginnt seine Predigt mit einem jüdischen Witz. Normalität zwischen Juden und Nichtjuden kann nur im alltäglichen Miteinander beginnen in der Hoffnung, dass sie sich dann ausbreitet. Und das ist möglich.