Parlamentarismus in Bonn : Im unnatürlichen Biotop
"Das Treibhaus" gilt bis heute als einer der wichtigsten politischen deutschsprachigen Romane. Das 1953 veröffentlichte Buch spielt im Bundestag in Bonn.
Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus." So lautet der zentrale Satz in einem der wichtigsten politischen Romane der deutschsprachigen Literatur: dem "Treibhaus" von Wolfgang Koeppen. Das 1953 publizierte Buch spielt im Bundestag und in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Erzählt wird - als Karikatur überspitzt und voller literarischer Anspielungen - das traurige Schicksal eines unglücklichen Abgeordneten, der sich - politisch und privat gescheitert - in den Rhein stürzt. Wer das schmale Buch heute liest, begegnet den Konflikten der frühen Bundesrepublik auf jeder Seite.
Demonstration im Jahr 1956: Die Frage der Wiederbewaffnung war eine der umstrittensten in der Bundesrepublik Deutschland.
Die 1950er Jahre waren in Westdeutschland eine widersprüchliche Zeit. Einerseits war die frühe Bonner Republik eine Gründungsphase. Grundlagen wurden gelegt, auf denen die Bundesrepublik bis heute steht. So entstand vor 75 Jahren ein politisches System, das auf Wahlen und einem starken Parlament basierte. Andererseits war die Bundesrepublik ein Land, das von seiner Vergangenheit geprägt wurde: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Ruinen nicht nur eine Metapher, sondern allgegenwärtig, auch als Verwundungen an Körpern und Seelen. Das Scheitern der Weimarer Demokratie, die nationalsozialistische Diktatur, die sowjetische Besatzung Ostdeutschlands - die Liste der Probleme war lang.
Der Roman handelt von der tagesaktuellen Gegenwart des ersten Bundestages
Diese Widersprüchlichkeit, die für den Neubeginn der Demokratie nach dem Nationalsozialismus so typisch war, kann kaum irgendwo eindrücklicher nachempfunden werden als im "Treibhaus". Der Roman erschien nicht nur 1953, sondern er handelt genau von der tagesaktuellen Gegenwart des ersten Bundestages. Und vor diesem zeitgenössischem Hintergrund wurde das "Treibhaus" gelesen und kritisiert. Damit gleicht der Roman einer Zeitkapsel, in der Diskurse und Mentalitäten überliefert werden.
Auch die Themen des Romans stammen aus den ersten Jahren des Bundestages. An erster Stelle stand da die Wiederbewaffnung: Die Frage, ob sich westdeutsche Soldaten als Teil der westlichen Allianz gegen die Sowjetunion wappnen sollten. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der deutschen Teilung war das eine der umstrittensten Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Roman erlebt die zerrissene Hauptfigur es als Niederlage, dass sie diese Wiederbewaffnung nicht verhindern kann - und das, obwohl der Abgeordnete mit der Politik unter anderem seine Ehe ruiniert.
Wolfgang Koeppen:
Das Treibhaus.
Suhrkamp,
Berlin 2023;
192 S., 10,00 €
Es kennzeichnet Koeppens Schreibweise, dass er Fakten und Fiktion, Gelesenes und Ausgedachtes untrennbar miteinander verknüpfte. Dabei lässt sich das "Treibhaus" auf fünf Arten charakterisieren: einmal als literarische Verdichtung des aktuellen Geschehens im Bundestag.
Schlüsselroman über das politische Personal der Bundesrepublik
Zudem handelt es sich um einen Schlüsselroman über das politische Personal der frühen Bundesrepublik. Drittens schrieb Koeppen einen Essay über die Rolle des Intellektuellen in der Öffentlichkeit. Schließlich bietet das "Treibhaus" eine Architekturkritik des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit - und vor allem ist es eine bitter-pazifistische Satire auf die Politik im Kalten Krieg.
An Publikationen über den Bundestag und zum Parlamentarismus mangelt es nicht. Eine Auswahl zu unterschiedlichen Aspekten des parlamentarischen Betriebs.
Die meisten Debatten im Bundestag verschwinden im Protokoll. Aber es gibt beeindruckende Ausnahmen, die für Stille oder Empörung sorgten oder das Land aufrüttelten.
Der verzweifelte Selbstmord eines fiktiven Politikers war das genaue Gegenteil eines demokratischen Neuanfangs - und eine starke Provokation. Entsprechend kontrovers wurde über das "Treibhaus" in der Öffentlichkeit gestritten. Über Koeppens Roman stritten Befürworter der Westbindung mit Pazifisten, Neutralisten und Nationalisten. Politikjournalisten argumentierten gegen Autoren aus dem Kulturbetrieb. Sogar die These, nach der "Bonn nicht Weimar" sei, entwickelte Fritz René Allemann direkt aus einer "Treibhaus"-Rezension.
Demokratie war nach 1945 in Deutschland noch eine exotische Pflanze
Das Stilmittel, mit dem der Roman die Kritik an den Verhältnissen zum Ausdruck bringt, ist die titelgebende Metapher des Gewächshauses. Mit der Symbolik bezieht sich das "Treibhaus" direkt auf die Parlamentsarchitektur des gläsernen Plenarsaals, in dem der Bundestag in Bonn debattierte. In Verbindung mit dem Klima der Stadt, in der oft drückende Schwüle herrscht, beschreibt das Sprachbild den Parlamentarismus in Bonn als künstlich und isoliert, als unnatürliches Biotop, das keine Chance auf "wahres" Leben biete.
In der Symbolik kommen Zukunftsängste zum Ausdruck, die insbesondere von der Weltpolitik verursacht wurden. Zugleich schwingt ein Gefühl der Fremdheit gegenüber dem neuen politischen System mit. Die Demokratie schien in Deutschland nach 1945 nicht wirklich heimisch zu sein, sondern erinnerte eher an eine exotische Pflanze.