Europas schwindender Einfluss in Afrika : Tiefer Blick in den Putschgürtel
Der Journalist Issio Ehrich hat mit "Putsch" ein lesenswertes Mosaik aus Erfahrungen, Positionen und Lebenswelten der Menschen in der Sahel-Zone vorgelegt.
Vergessene Krisen, wie sie Hilfsorganisationen regelmäßig vorstellen, finden in frappierender Überzahl in Afrika statt; oft belegen Länder zwischen Marokko und Mosambik alle zehn vorderen Plätze. Zugleich gilt: Wird über Afrika berichtet, sind die Berichte oft flüchtig und hangeln sich an Zahlen von Vertriebenen, Flüchtenden und Toten entlang, wie aktuell im Osten Kongos und im Sudan. Der Vielfalt eines Kontinents mit 54 Staaten und unzähligen Perspektiven wird das kaum gerecht.
"Kann den Europäerinnen und Europäern wirklich egal sein, was eine Milliarde Menschen auf ihrem Nachbarkontinent von ihnen denken"? Die Frage von Issio Ehrich ist natürlich rhetorisch gemeint. Und sie setzt den Ton für 250 Seiten, auf denen der in Berlin lebende Journalist und Fotograf die Lesenden mit auf eine Reise durch die Sahel-Zone nimmt und Menschen eine Stimme gibt, deren Perspektiven meist ignoriert werden.
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Unterstützer der malischen Streitkräfte (FAMa) und einer engen Zusammenarbeit mit Russland demonstrieren Ende Mai 2021 im malischen Bamako.
Geografisch markiert die Sahel-Zone den Übergang von der Wüste im Norden Afrikas zu den Savannen und Steppen im Süden des Kontinents. Politisch ist die Region seit einigen Jahren auch als "Putschgürtel" bekannt. Von Guinea im Westen bis Sudan im Osten übernahmen Militärs die Herrschaft; zuletzt 2023 in Niger, aus Sicht der Europäischen Union ein Schlüsselstaat. Im Gegenzug zu Militär- und Entwicklungshilfe hatte die nunmehr gestürzte Regierung seit 2015 die zentrale Fluchtroute nach Libyen in Richtung Mittelmeer geschlossen gehalten. Im zurückliegenden Jahr kündigten die neuen Machthaber das Abkommen auf.
Neue Partnerschaften mit Russland und China
Wie im benachbarten Mali, wo mit der UN-Mission Minusma auch hunderte Bundeswehrsoldaten ausgewiesen wurden, haben sich auch die Putschisten in Niger vom Westen abgewandt. Das gleiche gilt in Burkina Faso, und aktuell in Tschad, den vor wenigen Wochen die letzten französischen Truppen verlassen mussten. Neue Partnerschaften entstehen mit Russland, teils auch mit China, dessen Einfluss in Afrika seit Jahrzehnten zunimmt. Umfragen deuten darauf hin, dass auch weite Teile der Bevölkerung auf Seiten der Militärherrscher stehen - und Putin und Xi Jinping für verlässlichere Partner als die EU, den IWF und die Weltbank halten.
Wie konnte das passieren? Auf der Suche nach Antworten lässt Issio Ehrich Menschen vor Ort zu Wort kommen; in Mauretanien und Mali, Burkina Faso und Niger, das er als erster ausländischer Journalist nach dem Putsch bereiste. Dabei räumt schon die Auswahl mancher Protagonisten mit Klischees auf - etwa wenn er eine Nigrerin mit Biologie-Studium trifft, die in einer polygamen Ehe lebt, und der prorussische Propaganda völlig fern liegt. Dafür rechnet die Laborantin wortreich und mit viel Wut im Bauch mit einer jahrzehntelangen "Fassaden-Demokratie" ab, in der auch im 21. Jahrhundert noch Frankreich das Sagen gehabt hätte.
Der Bruch mit Frankreich spielt in Ehrichs Analyse eine zentrale Rolle. Das Buch beginnt mit einem historischen Rückblick, der die Wurzeln der Instabilität in der Sahel-Zone bis in die Zeit der Kolonialherrschaft zurückverfolgt. Und es zeigt auf, wie Frankreich seinen Einfluss auch nach der formalen Unabhängigkeit der Staaten sicherte. Die anhaltende Einmischung, legt das Buch nahe, habe eine tiefe Enttäuschung in der Bevölkerung hinterlassen. So tief, dass viele vor Ort das Gefühl hätten, sie seien trotz aller Härten auf einem "Weg zu einem besseren Leben, hin zu einer Unabhängigkeit, von der sie ein Leben lang geträumt haben."
Zustimmung zur Demokratie aber auch für Putsch der Militärs
Laut einer Umfrage des pan-afrikanischen Instituts Afrobarometer halten zwei von drei Afrikanern Demokratie zwar für die beste Staatsform. Zugleich akzeptiert mehr als die Hälfte eine Übernahme des Militärs, wenn gewählte Regierungen ihre Macht zu ihrem eigenen Vorteil nutzen.
Andere Menschen, die Issio Ehrich auf seinen Reisen trifft, verleihen einer Realität Gesichter, die auch zur Sahel-Zone gehören: Ein Tuareg, der seinen Lebensunterhalt bis zu dessen Sturz in Gaddafis Truppen sicherte, und sich später als erfahrener Kämpfer den Islamisten anschloss; ein zwischenzeitlich arbeitsloser Schlepper, der nun wieder Morgenluft wittert, seinem Geschäft nachgehen zu können. Und so sehr man ihre Lebenswege auch ablehnen mag: Auch sie eint der Eindruck, nicht Herren ihrer eigenen Geschichte zu sein.
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Issio Ehrich:
Putsch.
Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika.
Quadriga,
Berlin 2024;
288 Seiten, 25,00 Euro
So entsteht ein lesenswertes Mosaik aus Erfahrungen, Positionen und Lebenswelten - und ein Beitrag zur Debatte über den Einfluss Europas und die Zukunft der Demokratie in Afrika. Das Buch macht deutlich, wie wichtig eine tiefere Auseinandersetzung mit den historischen und gegenwärtigen Beziehungen wäre. Und es veranschaulicht auf plastische Weise, wie notwendig ein Perspektivwechsel wäre - zu dem unweigerlich gehört, die Stimmen der Menschen in der Sahel-Zone wie überhaupt in Afrika zu hören. Denn Afrika, das lehrt das Buch auch, ist ein Kontinent mit immensen Herausforderungen - und enormem Potenzial.
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