Unverzichtbare Außenseiter : Warum die Politik Familien besser unterstützen muss
Die Belange von Kindern und Familien spielen in unserer modernen Gesellschaft eine untergeordnete Rolle. Zwei Bücher analysieren, was sich ändern sollte.
Es ist seit dem ersten PISA-Schock 2001 regelrecht eine alte Leier: "Wir müssen mehr in die Bildung investieren und dafür sorgen, dass Herkunft nicht mehr über den Bildungserfolg entscheidet." Das Ergebnis: Seit Jahren sinkende Kompetenzen schon der Viertklässler und steigende Zahlen von Schulabbrechern. Der Handlungsbedarf ist akut. In der Debatte taugt er aber leider zu oft nur für den kurzen Skandal, dann verschwindet das Thema schnell wieder.
Der Spagat zwischen Arbeits- und Familienzeit überfordert viele Eltern und Kinder
Um so besser, dass es nun zwei Bücher gibt, die hier den Finger in die Wunde legen und Lösungsansätze formulieren. "Kinder. Minderheit ohne Schutz" tut dies sehr sachlich und soziologisch fundiert. Den drei Autoren, allesamt Professoren für Soziologie und Politikwissenschaften, gelingt ihre Analyse in einem so bemerkenswert unakademisch lockeren Tonfall, dass man dieses Buch problemlos mit an den Strand nehmen kann - und mit einem großen Erkenntnisgewinn wieder nach Hause geht.

Die Bruttowertschöpfung der unbezahlten Care-Arbeit innerhalb von Familien liegt bei knapp 990 Milliarden Euro jährlich.
Es analysiert zunächst in einer Art Grundkurs Soziologie, wie es in der Arbeitsteilung moderner Gesellschaften dazu kommen konnte, dass Kinder eine Außenseiterrolle einnehmen und wie die demografische Entwicklung diesen Umstand dramatisch verstärkt - gesellschaftlich und im Hinblick auf politische Teilhabe.
Auch Eltern würden in der modernen Gesellschaft im beruflichen und gesellschaftlichen Leben, faktisch überall außerhalb der Familie, weitgehend wie kinderlose Erwachsene behandelt, weshalb der Alltag von Eltern und Kindern eine ständige Herausforderung sei, schreiben die Autoren. Diese, so die mit Studien unterfütterte, traurige Erkenntnis, gelinge immer mehr Familien immer schlechter. Überfordert seien aber nicht nur Familien im Spagat zwischen Arbeits- und Familienzeit. Überfordert seien auch die für Kinder zuständigen Institutionen wie Kitas und Schulen.
Die zentrale Frage ist: Was brauchen Kinder?
Das ist freilich keine neue Erkenntnis, weshalb sich die Autoren damit auch nicht lange aufhalten, sondern stattdessen fragen: Was brauchen Kinder? Was brauchen Familien? Und wie sollten die Bildungsinstitutionen ausgestattet sein, um den Herausforderungen gerecht zu werden?
Das Wohltuende an der Analyse: Sie ist keine Anklage, sondern an Lösungen orientiert, sie denkt von den Bedürfnissen der Kinder aus. Und die sind nicht unerfüllbar: Sie brauchen, erstens, eine Familie, die Zeit hat. In den Niederlanden zum Beispiel sei es sehr verbreitet, dass beide Eltern ihre Arbeitszeit so reduzieren, dass mehr Zeit für die Familie bleibe und steuerlich auch keine Nachteile aus diesem Modell entstünden. Es steigere statistisch messbar das Wohlbefinden aller Kinder, wenn die Familie regelmäßig zusammen esse, so die Autoren.

Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach, Klaus Peter Strohmeier:
Kinder.
Minderheit ohne Schutz.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2025;
278 S., 24,00 €
Und weil es ihnen nicht darum geht, Generationen gegeneinander auszuspielen, sehen sie in den Senioren ein wichtiges Potenzial dafür, "dass Kinder mit ihnen verbundenen Erwachsenen (auch außerhalb der Familie) regelmäßig die richtigen Dinge tun können, bei denen sie wichtige Erfahrungen für ihr Leben machen".
Neben der Familie, die Zeit hat, entscheiden, zweitens, die Erfahrungen in Kitas und Schulen über das Wohlbefinden. Sind dies Orte, an denen Kinder sich gesehen und wertgeschätzt fühlen, geht es ihnen messbar besser. Aber wie sollen sie gesehen werden, wenn 31 Schüler in einer Klasse sitzen? Da Kinder sehr viel Zeit in der Schule verbringen, sei es nötig, diese "zu einer Lebenswelt umzugestalten, die endlich gut für Kinder und ihre Gesundheit ist", fordern die Autoren. Kitas und Schulen könnten "multifunktionale Orte" in diesem Sinne sein, wenn die Prioritäten anders gesetzt würden.
Familien sind der vielleicht wichtigste Teil der modernen Gesellschaft
Schon der Titel "Die Kinderwüste. Wie die Politik Familien im Stich lässt" zeigt, dass der Journalist Stefan Schulz einen anderen Tonfall anschlägt. Die Kritik ist freilich dieselbe: Politisch müssten sich die Belange von Familien stets anderen, vermeintlich wichtigeren Belangen unterordnen. Dies verkenne aber deren Rolle für die Zukunftsfähigkeit eines Landes, schreibt Schulz.
Sein Buch ist eher ein, manchmal polemischer, Essay, der schon mit der Forderung beginnt, das Familienministerium abzuschaffen. Begründung: Dort werde keine Politik für Familien, sondern letztlich für Arbeitgeber gemacht, die wollen, dass ihnen die Arbeitskraft der Eltern möglichst umfassend zur Verfügung steht. Das ist zweifellos ein Einwand, über den man nachdenken kann.

Stefan Schulz:
Die Kinderwüste.
Wie die Politik Familien im Stich lässt.
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2025;
160 S., 22,00 €
Er rechnet vor, welche enorme Bruttowertschöpfung die Care-Arbeit in Familien jedes Jahr erwirtschaftet, und wie wenig sie dafür von der Gesellschaft zurückbekommen. Seine Lösung des Problems fängt bei einer anderen Steuerpolitik an, geht über zu konkreten Familienleistungen, um Köche und Putzhilfen zu bezahlen, bis hin zu mehr Investitionen in Ganztagsbetreuung. "Wir brauchen ein neues Nachdenken über Familien als vielleicht wichtigsten Teil der modernen Gesellschaft", so Schulz.
Auch er konstatiert also eine Überforderung, streift dabei jedoch so viele Aspekte, von der sinkenden Geburtenrate, über das Scheitern der Kindergrundsicherung und die Erfindung der romantischen Liebe bis zur Familienpolitik in Russland, das der rote Faden beim Lesen mitunter verschwindet. Aber er taucht dann auch wieder auf: Familie kann mehr sein als die traditionelle Kernfamilie und sollte auch jenseits davon mehr Unterstützung erfahren.

Lehrermangel und Unterrichtsausfall treffen vor allem Haupt- und Realschulen. Das hat Folgen für die Bildungschancen.

Mehr Freiheit, weniger Autorität, mehr Zuneigung, weniger Strafen: Die Eltern-Kind-Beziehung hat sich im Laufe der Zeit erheblich gewandelt.

In Deutschland fehlen rund 383.000 Kitaplätze. Wo es Plätze gibt, wie in Mecklenburg-Vorpommern, mangelt es oft an Personal für die Kinderbetreuung.