Die Leipziger Buchmessen-Chefin im Interview : "Wir sind ein organisches Gebilde"
Die neue Direktorin Astrid Böhmisch blickt optimistisch auf die anstehende Bücherschau. Das klassische Buch und digitale Medien stehen für sie nicht in Opposition.
Nach dem Ausscheiden von Oliver Zille im vergangenen Jahr, haben Sie Anfang des Jahres die Leitung der Leipziger Buchmesse übernommen. Welches Gefühl überwiegt nur wenige Tage vor dem Start Buchmesse? Vorfreude oder Lampenfieber?
Astrid Böhmisch: Definitiv die Vorfreude.
Gleich dreimal musste die Leipziger Buchmesse während der Corona-Pandemie abgesagt werden. Hat sich die Messe von diesem tiefen Einschnitt erholt?
Astrid Böhmisch: Das kann ich mit einem klaren Ja beantworten. Die Buchmesse 2023, die unter dem Motto "Neustart" stand, hat wunderbar funktioniert. Einerseits wegen der Treue und dem Engagement der Aussteller, die auf einem großartigen Level zurückgekommen sind. Sie wissen um die Sinnhaftigkeit und die Nachhaltigkeit der Leipziger Buchmesse und ihrer besonderen Wirkung. Und das gleiche gilt für die Besucher und Besucherinnen der Buchmesse.
Können Sie das näher beziffern?
Astrid Böhmisch: Bei den gemeldeten Ausstellern liegen wir aktuell etwas über dem Stand der Buchmesse 2023. Im vergangenen Jahr kamen mehr als 270.000 Besucher und Besucherinnen. Wir hoffen natürlich, dass sich die Menschen auch in diesem Jahr wieder dafür entscheiden, in Leipzig ihre Leseinspiration zu finden, sich mit anderen Menschen auszutauschen und diese Energie mit nach Hause zu nehmen. Sicherlich ist 2024 für viele Familien finanziell ein sehr herausforderndes Jahr. Aber wir blicken sehr zuversichtlich auf den Start der Buchmesse - wenn uns kein Bahnstreik in die Quere kommt.
Wie geht man als Messe denn mit der Gefahr eines Bahnstreiks um, von dem tausende von Besuchern, Ausstellern und Autoren betroffen wäre?
Astrid Böhmisch: Wir beobachten die Situation in der Presse und stehen auch in engem Kontakt mit den Verantwortlichen in Stadt und Land. Aber abschätzen lässt sich das natürlich nicht abschließend.
Sie haben auf den Neustart der Buchmesse 2023 hingewiesen. "Neustart Kultur" nannten sich auch jenes Bundesprogramm während der Corona-Jahre für die Kulturbranche, das im vergangenen Jahr ausgelaufen ist. Wie wichtig waren diese Staatshilfen für die Leipziger Buchmesse?
Astrid Böhmisch: Sie waren sehr wichtig. Sie ermöglichten die weitere Planung und Vorbereitungen. Messen wie die Leipziger Buchmesse werden weit über ein Jahr im Voraus geplant - inhaltlich und organisatorisch. Vor allem waren sie das wichtige Signal der Politik in die gesamte Kulturbranche, dass sie relevant für unsere Gesellschaft ist.
"Neue Besen kehren gut", sagt der Volksmund etwas uncharmant. Ihren Posten als neue Direktorin der Buchmesse haben Sie erst im Januar angetreten. Sehen Sie dennoch schon Veränderungsbedarf bei der Leipziger Buchmesse?
Astrid Böhmisch: Wenn man eine Institution wie die Buchmesse übernimmt und sagt, da muss ich gar nichts ändern, dann würde das wohl jeden - einschließlich mich selbst - stutzig machen. Die Buchmesse ist eine Plattform, wir geben einen Kontext und einen Raum für unsere Aussteller und Besucher. Somit sind wir ein organisches Gebilde. Und als Direktorin sehe ich es als meine Pflicht an, dieses Gebilde kontinuierlich weiterzuentwickeln. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, ob unsere Präsentationsformen noch passen oder ob wir den in der Gesellschaft präsenten Themen ausreichend Raum geben. Das ist aber auch das Schöne an der Aufgabe.
Die Leipziger Buchmesse 2024
⏰ Wann? Vom 21. bis 24. März 2024, täglich von 10:00 bis 18:00 Uhr
📍 Wo? Leipziger Messe, Messe-Allee 1, 04356 Leipzig
📚 Was? Unter dem Motto „Alles außer flach!“ präsentieren sich die Niederlande und Flandern als Gastland. Neben klassischen Lesungen und Vorträgen wird Literatur mit Musik und Installationen präsentiert.
💻 Und sonst? Zum ersten Mal öffnet die Messe in diesem Jahr die Türen der speziell für Blogger konzipierten Lounge, die sich in der -1 Ebene der Glashalle, unmittelbar neben dem Fachbesucherzentrum, befindet.
Haben Sie konkrete Vorstellungen für Veränderungen?
Astrid Böhmisch: Wichtig ist für uns zunächst die aktuelle Buchmesse, auf der wir Veränderungen realisieren, die bereits im vergangenen Jahr angestoßen wurden. Als Beispiel nenne ich zum einen das Forum offene Gesellschaft. Das steht unter dem Motto "Diskutieren, was unsere Zeit bewegt". Dies bietet einen Rahmen für Panels und Diskussionen, den Austausch mit Autorinnen und Autoren. Das zweite Beispiel ist unsere in der Fläche vergrößerte #buchbar, eine Art Café, in dem vor allem ein jüngeres Publikum mit den Autoren in Kontakt treten kann. Für die Zukunft gibt es aber sicher viele Bereiche, die wir kuratorisch besser betreuen müssen. Ich geben Ihnen ein Beispiel: Der große und wachsende Audio-Bereich: Hörbücher oder Podcasts. Da müssen wir uns über neue Präsentationsformen Gedanken machen. Bücher sind sehr sinnlich erfahrbar. Die Aufgabe wird sein, wie wir digitale Hörbücher ebenfalls so sinnlich präsentieren können, dass die Besucherinnen und Besucher gerne in eine Interaktion treten. Ich denke aber auch an den Bereich der Künstlichen Intelligenz. Das ist ein Thema, das aktuell bei vielen Menschen noch sehr angstbesetzt ist. Da müssen wir neue kuratorische Klammern setzen.
Sie schauen selbst auf eine abwechslungsreiche Karriere in der Filmbranche, beim Piper Verlag und beim Digitaldienstleister Bookwire. Macht es das einfacher, über das klassische Buch hinaus zu denken?
Astrid Böhmisch: Ich denke schon. Wir dürfen die unterschiedlichen Medien nicht als in Opposition stehend betrachten. Nehmen Sie nur den Lese-Trend bei einer Plattform wie TikTok, wo junge Menschen ihre Lieblingsbücher empfehlen. Bücher, die auch schön gestaltet sind, mit Farbschnitt und Veredelung. Da lässt sich die Verknüpfung zwischen klassischen und sehr progressiven, digitalen Medien gut beobachten.
Thedel von Wallmoden, Verleger des Wallstein Verlages, äußerte Ende vergangenen Jahres in einem Beitrag für das Leipziger Stadtmagazin "Kreuzer", die Leipziger Buchmesse sei "keine heilige Kuh der Branche". Weil sich nicht alle Verlage den gleichen Nutzen von der Messe versprechen würden, sei sie "als zweitwichtigste neben der Frankfurter Buchmesse keineswegs unumstritten". Hat Sie diese Aussage aufgeschreckt?
Astrid Böhmisch: Nein. Ich spreche mit vielen Verlegern und Verlegerinnen und von denen wird die Situation sehr positiv beurteilt. Sicherlich ist nichts eine heilige Kuh. Aber es käme einer freiwilligen Selbstverzwergung gleich, wenn man auf die Möglichkeit, das Buch sowohl im Frühjahr in Leipzig als auch im Herbst in Frankfurt mit einer so großen medialen Wucht zu präsentieren, verzichten würde. Mein Bestreben ist es, mit allen Beteiligten, den Verlegern, den Ausstellern, den Partnern im politischen Bereich daran zu arbeiten, die Bühne für das Thema Lesen auch weiterhin zweimal im Jahr zu gewährleisten. Der unmittelbare Kontakt zu den Leserinnen und Lesern ist für die gesamte Branche von unschätzbarem Wert - auch für kleine Verlage.
Gastland auf der diesjährigen Buchmesse sind die Niederlande und Flandern. Sie präsentierten sich bereits zweimal gemeinsam auf den Frankfurter Buchmessen 1993 und 2016. Ist der deutsche Buchmarkt so interessant für die Niederländer und Flamen?
Astrid Böhmisch: Sie haben sich jedenfalls mit sehr viel Enthusiasmus der Aufgabe gestellt, sich erneut in Deutschland zu präsentieren. Daran kann man erkennen, dass der deutsche Markt sehr interessant ist für sie. Beim Blick auf das inhaltliche Programm und den geplanten Veranstaltungen nehme ich wahr, dass es ihnen ein großes Anliegen ist, neben den etablierten und auch auf dem deutschen Markt bekannten und großen Namen der niederländischsprachigen Literatur vor allem jungen und diversen literarischen Stimmen Raum zu geben. Mit diesem Ziel sind sie angetreten und ich bin mir sicher, dass ihnen das auch gelingt. Sie präsentieren sich mit einer sehr breiten literarischen Palette, die von Comics bis zu einem feministischen Kollektiv, das aus zwölf Autorinnen besteht, reicht. Die Besucher der Messen werden jedenfalls interessante Entdeckungen machen können.
Spätestens seit der Documenta 15 gibt es in Deutschland eine heftige Diskussion über Antisemitismus in der Kulturbranche. Auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst wurde dem slowenischen Autoren Slavoj Zizek wegen seiner Rede bei der Eröffnungsfeier Antisemitismus vorgeworfen, ebenso Filmschaffenden auf der Berlinale. Befürchten Sie ähnlich negative Schlagzeilen für die Leipziger Buchmesse?
Astrid Böhmisch: Nein, negative Schlagzeilen befürchte ich nicht. Als Buchmesse geben wir allen Raum, die für einen friedlichen und konstruktiven Austausch sorgen. Die Grundlagen sind Meinungsfreiheit und Toleranz. Die Grenze verläuft dort, wo Meinung zu Desinformation und Hetze und die Würde des Menschen verletzt wird. In der aktuellen Situation achten wir auch bei allen Veranstaltungen darauf, ob und wo es Gefährdungslagen geben könnte.
Die Leipziger Buchmesse hat sich immer auch als Drehscheibe zwischen Ost und West verstanden. Nun tobt seit zwei Jahren der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Wie geht die Buchmesse damit um?
Astrid Böhmisch: Wir legen in Leipzig seit langem einen Schwerpunkt auf Südosteuropa. Das machen wir beispielsweise mit unserem Traduki-Programm in Zusammenarbeit mit der S. Fischer Stiftung, mit dem wir zeitgenössische Literatur aus Südosteuropa in deutscher Übersetzung vorstellen. Wir wollen damit zeigen, wie man aus der Perspektive dieser Länder auf Europa schaut. Das hat eine lange und schöne Tradition. Die Ukraine wird selbstverständlich einen eigenen Stand haben, der sowohl von uns als auch von der Stadt Leipzig und vom Freistaat Sachsen unterstützt wird. Es ist uns sehr wichtig, dass sich ukrainische Kulturschaffende präsentieren können und wir das Zeichen aussenden, dass in Deutschland eine gesellschaftliche Unterstützung vorhanden ist. Das gilt übrigens auch für Belarus, ein Land das ein bisschen aus dem Fokus geraten ist. Literarisches Schaffen findet dort nur noch unter schwersten Bedingungen, im Gefängnis oder im Exil statt. Es ist essenziell, dass die Öffentlichkeit wahrnehmen kann, dass weiter literarisch für ein anderes Belarus in der Zukunft gearbeitet wird. An ganz vielen Stellen der Messe kann man sich über Panel-Diskussionen und Lesungen mit diesem Thema auseinandersetzen.
In diesem Jahr feiert die Manga-Comic-Con ihr zehnjähriges Jubiläum...
Astrid Böhmisch: Ja, das ist großartig!
Was ursprünglich eher eine Nische war, hat sich zu einem großen Erfolg entwickelt. Die Comic-Branche boomt und vor allem Manga erfreuen sich beim jungen Publikum großer Begeisterung. Greifen Sie denn selbst mal zu einem Manga-Comic?
Astrid Böhmisch: Da bin ich eher durch die klassischen französischen und belgischen Comics sozialisiert. Manga sind nicht unbedingt meine Leseheimat. Aber ich finde es unglaublich faszinierend, was für eine großartige Jugendkultur die Fangemeinde ist: sehr offen, sehr inklusiv und engagiert. Und diese live und physisch auf der Buchmesse erleben zu können, ist eine tolle Sache.
Wo liegt denn die Leseheimat von Astrid Böhmisch?
Astrid Böhmisch: Ich lese sehr breit, versuche abzuwechseln zwischen Belletristik und Sachbuch und mir dadurch einen Überblick über den Buchmarkt zu erhalten. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich wegen der Vorbereitungen für die Buchmesse kaum zum Lesen gekommen bin. Aktuell habe ich mir gerade den Roman "Gewässer im Ziplock" von Dana Vowinckel gekauft. Sie ist eine der Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse, der in diesem Jahr zum 20. Mal verliehen wird.
Mit ihrem Auftritt in Leipzig präsentieren sich die Niederlande und Flandern bereits zum dritten Mal gemeinsam auf einer der beiden großen deutschen Buchmessen.
Am 21. März wird der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen. Aus 485 Werken wurden 15 nominiert in den Kategorien Sachbuch, Belletristik und Übersetzung.
Die Manga-Comic-Con feiert ihr zehnjähriges Jubiläum auf der Leipziger Buchmesse. Der Markt für die Bildergeschichten boomt in Deutschland.