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Leipziger Buchmesse 2024 : Die vereinigten Buchlande

Mit ihrem Auftritt in Leipzig präsentieren sich die Niederlande und Flandern bereits zum dritten Mal gemeinsam auf einer der beiden großen deutschen Buchmessen.

18.03.2024
2024-03-18T15:39:06.3600Z
6 Min

Die Autorinnen und Autoren aus den Niederlanden und Flandern sind seit Jahren Publikumslieblinge auf der Buchmesse und bei ,Leipzig liest' und überraschen immer wieder aufs Neue durch ihre frischen Perspektiven und Themen", freute sich Oliver Zille im März vergangenen Jahres mit Blick auf das Gastland Niederlande und Flandern auf der Leipziger Buchmesse 2024.

Als Direktor der Leipziger Buchmesse wird Zille die Niederländer und Flamen jedoch nicht begrüßen. Dies wird seine Nachfolgerin Astrid Böhmisch übernehmen, die die Buchmessse seit Anfang des Jahres als neue Direktorin leitet. Für viele überraschend hatte sich Oliver Zille, der die Entwicklung der Leipziger Buchmesse in den vergangenen 30 Jahren maßgeblich geprägt hat, im vergangenen Jahr vom Chefposten zurückgezogen.

Foto: picture-alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Vom 21. bis 24. März werden auch dieses Jahr wieder zehntausende von Besuchern über den Treppenaufgang in die Glashalle der Leipziger Buchmesse strömen.

Unbekannte sind die Niederländer und die belgischen Flamen auf dem deutschen Buchmarkt wahrlich nicht. Bereits zweimal war das Duo auf der Frankfurter Buchmesse in den Jahren 1993 und 2016 als Ehrengast vertreten.

Niederländer und Flamen teilen sich eine Muttersprache

Dass sich die Niederländer gemeinsam mit ihren flämischen Nachbarn aus Belgien gemeinsam präsentieren, liegt durchaus auf der Hand. Immerhin teilen sie sich eine gemeinsame Sprache: 17,8 Millionen Niederländer und 6,8 Millionen Menschen in Flandern nennen Niederländisch ihre Muttersprache.

Mit ihrem dritten Auftritt auf einer der beiden größten deutschen Buchmessen nehmen sie nun den Spitzenplatz unter den Gastländern ein und werden somit allein deswegen ihrem diesjährigen charmant-ironischen Motto "Alles außer flach" mehr als gerecht.

Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, die Kuratorinnen des Gastlandprogramms.   Foto: picture alliance/dpa/Jan Woitas

"Wir sind geografisch flach, aber gesellschaftlich, kulturell und politisch sind wir alles andere als flach", sagt die niederländische Literaturkritikerin und Autorin Margot Dijkgraaf, die zusammen mit ihrer deutschen Kollegin, der Autorin und Journalistin Bettina Baltschev, das Programm der Niederlande und Flandern in Leipzig kuratiert. Mit einer Delegation von 41 niederländischen und flämischen Autoren und Illustratoren präsentiert sich das Gastland auf der Buchmesse. An seinem Stand in Halle 4 des Messegeländes und auf anderen Messebühnen sowie in der zentralen Spielstätte Schaubühne Lindenfels und weiteren Orten im ganzen Stadtgebiet sind rund 100 Veranstaltungen, vier Ausstellungen und drei digitale Literaturinstallationen geplant. Dazu kommen 13 Veranstaltungen an sieben Leipziger Schulen. Begleitend zur Buchmesse stellt der Bücherpodcast "Kopje koffie" Neuerscheinungen des niederländischen und flämischen Buchmarktes vor. Für die Realisierung des Gastlandauftritts zeichnen die Niederländische Literaturstiftung (Nederlands Letterenfonds) in Amsterdam, Flanders Literature in Antwerpen sowie die Niederländische Botschaft und die Vertretung Flandern in Berlin verantwortlich.

Klima, Herkunft und Körperlichkeit: Literarische Verarbeitung aktueller Themen 

Ein Blick auf die Neuerscheinungen in den Niederlanden und Flandern zeigt, dass die dortigen Autoren viele der aktuellen politischen und gesellschaftsrelevanten Themen in ihrem literarischen Schaffen verarbeiten. Die Kuratorinnen Margot Dijkgraaf und Bettina Baltschev umreißen die Bandbreite des Angebotes so: "Hier werden literarische Gipfel erklommen. Hier läutet der Roman die Alarmglocke für das Klima. Die Poesie hinterfragt Herkunft und Körperlichkeit. Der Essay kritisiert den Krieg und besinnt sich auf die Gefahren, denen die Demokratie ausgesetzt ist. Vergessene Stimmen - Frauen, deren Rolle im öffentlichen Leben lange ignoriert wurde, Nachfahren versklavter Menschen - erklingen aus den Tiefen der Geschichte."

Der Niederländer Raoul de Jong etwa begibt sich in "Jaguarmann" (Edition Amikejo) auf die Suche nach seinen Wurzeln und denen seines Vaters in Suriname, einer ehemaligen niederländischen Kolonie in Südamerika, die erst 1974 unabhängig wurde. Und seine flämische Kollegin Gaea Schoeters zeigt in ihrem Roman "Trophäe" (Zsolnay), dass Afrika in der Weltsicht eines weißen Großwildjägers nicht mehr ist als ein "Vergnügungspark, sein Jagdgebiet".

Erstarkte rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien

Dass der Themenkomplex Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei von niederländischen und flämischen Literaten verstärkt aufgegriffen wird, sollte nicht verwundern. Schließlich blicken sowohl die Niederlande als auch Belgien auf eine lange und mitunter sehr blutige koloniale Vergangenheit zurück. Die Niederländer waren bereits im 17. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten See- und Kolonialmächte mit Besitzungen in der Karibik, Südamerika und Südasien aufgestiegen. Und Belgien schuf sich mit dem Erwerb des Kongobeckens im 19. Jahrhundert ein gewaltiges afrikanisches Kolonialreich. Die kolonialen Verstrickung beider Länder hat bereits der flämische Historiker David Van Reybrouck in seinen beiden preisgekrönten Sachbüchern "Kongo: Eine Geschichte" (Suhrkamp, 2012) und "Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt" (Suhrkamp, 2022) verarbeitet.

Thema in Leipzig wird auch der politische Rechtsruck in den Niederlanden bei den Wahlen vom November vergangenen Jahres sein, als sich "Partei der Freiheit" des Rechtspopulisten Geert Wilders zur stärksten politischen Kraft im Land aufschwang. Auch bei den kommenden Wahlen in Belgien - dort finden am 9. Juni nicht nur die Europawahlen statt, sondern es werden sowohl ein neues Bundesparlament als auch die Landesparlamente gewählt - könnte das politische Stimmungsbarometer weiter nach rechts ausschlagen. Vor allem in Flandern sind rechtspopulistische und rechtsextremistischen Parteien stark und liegen in den Umfragen vorne. Der Gastlandauftritt der Niederlande und Flanderns finde deshalb auch "im Namen der Meinungs- und Pressefreiheit statt", fördere unabhängige Verlage und setze sich für Diversität und Menschenrechte ein, heißt es bei den Verantwortlichen. Im Rahmenprogramm ist zudem eine Veranstaltung unter dem Motto "Alles außer Hass" geplant.

Steigende Zahl von Übersetzungen 

Seit den 1990er Jahren fanden immer mehr Bücher aus den Niederlanden und Flandern in Übersetzung ihren Weg auf den deutschen Buchmarkt. Prominente Autoren wie Cees Nooteboom, Hugo Claus oder Harry Mulisch wurden zu festen Größen bei deutschen Verlagen. Dies hat auch etwas mit dem Engagement der Niederlande und Flandern auf den beiden Frankfurter Buchmessen zu tun. Vor allem nach dem Gastlandauftritt 2016 stieg die Zahl der deutschen Übersetzungen deutlich an. Unterstützt wird dies auch durch die beiden Literaturstiftungen Nederlands Letterenfonds und Flanders Literature. Von den rund 7.300 Büchern, die 2022 in den Niederlanden erschienen, wurden 600 aus dem Niederländischen in 44 Sprachen übersetzt, davon etwa 120 ins Deutsche.

"Käse" für den Niederländer: König Willem-Alexander und Belgiens König Philippe tauschten auf der Frankfurter Buchmesse 2016 Literatur aus ihren Ländern aus.   Foto: picture alliance/dpa/Frank Rumpenhors

Auch wenn Niederländer und Flamen sich eine Muttersprache teilen, garantiert dies jedoch nicht immer eine reibungslose Verständigung. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2016 schrieb der in den Niederlanden geborene, aber in Flandern lebende Autor Marc Reugebrink in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Rundschau" über das sprachliche Verhältnis zwischen Holländern und Flamen: "Sie sprechen ein bisschen komisch, die Belgier. Ein Holländer würde sagen: sie sprechen Belgisch. Für einen richtigen Flamen ist das schon eine Beleidigung. Er spricht kein Belgisch, er spricht nicht einmal Flämisch, er spricht Niederländisch." Einem Flamen, der in Amsterdam etwa frage, wo das Reichsmuseum sei, antworte der Holländer oft auf Englisch, berichtete Reugebrink. Überhaupt sei das Verhältnis zwischen Flamen und Niederländern, vor allem den Holländern, durch einige Ressentiments geprägt.

Lange gemeinsame Geschichte

Dies mag auch mit der langen, abwechslunsgreichen und durchaus konfliktgeladenen Gesichte zu tun haben, die die Niederlande mit Flandern teilen. Mal waren sie vereint, dann wieder getrennt. Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert sind große Teile der Niederlande, Belgiens und auch Luxemburgs eng miteinander verwoben, firmieren mal als burgundische, habsburgische und spanische Niederlande. Im Zuge der Reformation und Gegenreformation und des Achtzigjährigen Krieges löst sich 1581 mit dem Niederländischen Aufstand gegen Philipp II. von Spanien der reformierte, calvinistische Norden von den spanischen Niederlanden im Süden ab.

Die daraus hervorgehende Republik der Vereinigten Niederlande, ein Staatenbund der Provinzen Geldern, Friesland, Holland, Overijssel, Stad en Lande, Utrecht und Zeeland, besteht bis zum Jahr 1795, als sie im Zuge des französischen Revolution durch die neue Batavische Republik ersetzt wurde.

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Nach der Niederlage Napoleons beschließen die Mächtigen Europas 1815 auf dem Wiener Kongress, die Niederländer wieder mit den südlichen belgischen Provinzen zu vereinigen – als Pufferstaat gegen Frankreich. Doch diesem geschaffenen Königreich der Vereinigten Niederlande ist keine lange Lebensdauer beschieden. Die religiöse, sprachliche und wirtschaftliche Kluft zwischen Nord und Süd führt zum erneuten Bruch. In der Belgischen Revolution von 1830 erhob sich die überwiegend katholische Bevölkerung der südlichen Provinzen des Vereinigten Königreichs der Niederlande gegen die Vorherrschaft der mehrheitlich protestantischen Nordprovinzen. Mit der Entstehung des Königreiches Belgien gehen Niederländer und Flandern endgültig getrennte Wege. Auch wenn die Idee einer erneuten Vereinigung von Flamen und Niederländern in einem Großniederlanden immer wieder in den Köpfen von Politikern wie Geert Wilders oder des Vorsitzenden der flämischen Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), Bart De Wever, herumspukt. 

Zumindest auf der Leipziger Buchmesse werden die Niederländer vom 21. bis 24. März dann doch wieder vereint sein, friedlich und intellektuell – quasi als die Vereinigten Buchlande.