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Nach Russlands Überfall auf die Ukraine : Warme Wohnzimmer und laufende Fabriken waren die Aufgabe

Der Chef der Bundesnetzagentur wird im Untersuchungsausschuss vernommen. Er berichtet von großen Sorgen über die Versorgungssicherheit.

20.12.2024
True 2024-12-20T16:10:44.3600Z
4 Min

Das ganze Jahr war eine Phase der extremen Unsicherheit." Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, wird 2022 vermutlich nicht vergessen. Russland hatte die Ukraine überfallen, in der Folge verlor Deutschland seinen preiswerten Energielieferanten. Kohle, Öl und Gas drohten knapp zu werden. "Dass die Wohnzimmer warm bleiben und die Fabriken weiter laufen", habe in dem Jahr im Hauptfokus der Arbeit seiner Behörde gestanden, erklärte Müller am Mittwoch bei seiner Vernehmung durch den 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs untersucht.

Bei den Vernehmungen schilderten alle Zeugen die große Bedeutung der Versorgungssicherheit, deren Gewährleistung an erster Stelle aller Bemühungen gestanden hatte - ob mit Atomkraft oder ohne. "Wir mussten sicherstellen, dass alle in Deutschland genug Strom haben", beschrieb auch Volker Oschmann den Auftrag der von ihm geleiteten Abteilung im Wirtschaftsministerium.

Man habe verschiedene Szenarien durchgespielt, die im Lauf des Jahres 2022 immer wieder "von der Realität überholt" worden seien, berichtete der Netzagentur-Präsident. Von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) habe sein Haus den Auftrag erhalten, die Netzstabilität unter Berücksichtigung des Atomausstiegs vor dem Hintergrund der neuen Umstände zu prüfen. Seine Behörde habe zwei sogenannte "Stresstests", den zweiten "mit verschärften Annahmen", durchgeführt. Weder für die Aufrechterhaltung der Netzstabilität noch, um eine Gasmangellage zu kompensieren, sei eine Abkehr vom Weg des Atomausstiegs angezeigt gewesen, erläuterte Müller. "Ein Weiterbetrieb spart kein Gas."

Durch Verlängerung der Laufzeiten keine Kilowattstunde Strom mehr

Der frühere Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Patrick Graichen, bestätigte diese Annahmen. Der damalige Kenntnisstand sei gewesen, dass es durch eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke keine zusätzliche Kilowattstunde Strom geben werde. Beim Thema Kohlekraftwerke hätte man erheblich einfacher agieren können. Es sei möglich gewesen, zehn Gigawatt Leistung durch die Reaktivierung von Kohlekraftwerken wiederzugewinnen. Wie schon Müller betonte auch Graichen, dass sein Leitmotiv die Gewährleistung der Versorgungssicherheit mit Gas, Öl und Strom gewesen sei.

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Auf die Frage, ob die zu ergreifenden Maßnahmen ergebnisoffen geprüft worden seien, sagte Graichen: "Eindeutig ja." Zentraler Punkt sei gewesen, alle Optionen zu prüfen. Die Verlängerung der Laufzeiten sei eine von mehreren Optionen gewesen. Wenn es notwendig gewesen wäre, "tun wir das. Das war die klare Botschaft", sagte Graichen. Er erinnerte aber daran, dass die Betreiber der Kernkraftwerke selbst erklärt hätten, dass es durch eine Laufzeitverlängerung bis zum Frühjahr keine zusätzlichen Strommengen geben werde.

Die Frage nach der auch von Habeck zugesicherten ergebnisoffenen Prüfung einer Laufzeitverlängerung spielte bei den Vernehmungen immer wieder eine Rolle. Graichen hatte einen kritischen Vermerk des Kraftwerksbetreibers RWE zur Laufzeitverlängerung als "Anmerkungen der Betreiber" per Mail mit dem Hinweis an den Staatssekretär im Umweltministerium, Stefan Tidow, geschickt mit der Anmerkung: "Die wollen das nicht." Zudem habe er angemerkt, so was brauche man auch von der Atomaufsicht. 

Auf Fragen, wie das mit der von Habeck angekündigten ergebnisoffenen Prüfung zusammenpasse, sagte Graichen, ihm sei es dabei um Anmerkungen der Atomaufsicht gegangen. Zentrale Frage für ihn sei gewesen, ob es durch eine Laufzeitverlängerung einen Nutzen für die Energiesicherheit gebe. Auch Tidow erklärte zu Graichens Mail, damit sei kein Ergebnis vorweggenommen worden. Er habe die Mail so verstanden, dass Graichen die Anmerkungen der Betreiber zur Kenntnis gegeben habe. Tidow widersprach dem Eindruck, die Feststellungen einer Arbeitsgruppe im Umweltministerium zum Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke seien von der Führung des Ministeriums ins Gegenteil verkehrt worden.

Kraftwerksbetreiber sahen einen Weiterbetrieb sehr kritisch

Auch Gerrit Niehaus, Abteilungsleiter im Umweltministerium, bestätigte, die Betreibergesellschaften hätten dem Weiterbetrieb in einer Telefonkonferenz im März 2022 ablehnend gegenübergestanden und Nachrüstungen sowie die Verantwortung für den Weiterbetrieb nicht übernehmen wollen. Die Atomwirtschaft habe sich bereits auf den Ausstieg eingestellt. Unter Einbeziehung aller technischen Überlegungen und rechtlichen Vorgaben sei man zu dem Schluss gekommen, dass ein Weiterbetrieb von vor über drei Jahrzehnten gebauten Kernkraftwerke ein sicherheitstechnisch nicht hinnehmbares, hohes Risiko darstelle - ein angesichts der als "verschärft empfundenen Lage bei der Energieversorgung" für dreieinhalb Monate verlängerter "Streckbetrieb" aber möglich sei.

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Seine Aufgabe sei gewesen, darauf hinzuweisen, erklärte Niehaus zu einem Vermerk des Umweltministeriums, dass eine Verlängerung der Laufzeiten über das vorgesehene Abschaltdatum 31. Dezember 2022 sicherheitstechnisch nicht vertretbar sei. Unter Sicherheitsbetrachtungen handele es sich bei einer Laufzeitverlängerung um eine Risikoerhöhung, sagte auch Graichen.

Auf Fragen nach seiner eigenen Haltung zur Kernkraft sagte Graichen, die Atomkraft habe Chancen und Risiken. Das Risiko eines GAU sei nicht vollständig auszuschließen. Deshalb habe er immer das Ziel verfolgt, eine Energieversorgung ohne Atomkraft klimafreundlich herzustellen.