Nach Absage an EU-Beitrittsverhandlungen : Proteste in Tiflis eskalieren
Weiterhin demonstrieren Tausende Menschen in Georgien gegen die prorussischen Regierung. Die geht inzwischen mit zunehmender Härte gegen Oppositionelle vor.
Das Regime hat Angst vor den Bürgern und den Kundgebungen", sagt Elena Khoshtaria von der Partei "Europäisches Georgien", “daher agiert es so aggressiv.” Gerade haben Uniformierte die Büros von Oppositionellen durchsucht, auch das ihrer Partei. "Die Polizisten haben zu den Durchsuchungen Molotowcocktails mitgebracht, um sie uns unterzuschieben", sagt Lasha Bakradze vom Bündnis Einheit.
Universitäten sind im Streik, Schulen, Restaurants, Theater und Kinos geschlossen
Khoshtaria spricht von 250 festgenommenen Demonstranten, 180 seien in den Gefängnissen schwer misshandelt worden. "Anwälte, die sie besucht haben, berichten von Wunden und Brüchen an Kopf und Händen. Das ist russischer Stil." Khoshtaria war von 2007 bis 2012 stellvertretende Ministerin für Euro-Atlantische Integration, 2016 wurde sie das erste Mal ins Parlament gewählt. Wie alle Oppositionspolitiker hat sie das bei den von Betrugsvorwürfen überschatteten Parlamentswahlen am 26. Oktober errungene Mandat nicht angenommen. Wie brutal die Polizei vorgehen kann, zeigt ein Video vom vergangenen Wochenende. Ein Mann liegt gekrümmt vor dem Parlament in Tiflis. Plötzlich tritt einer der Uniformierten mit voller Wucht gegen seinen Kopf. Der Mann fliegt auf den Rücken und bleibt reglos liegen. Er hat mit viel Glück überlebt.
Zu Tausenden gehen die Menschen in nahezu allen Städten der Südkaukasusrepublik auf die Straßen, seit Premierminister Irakli Kobachidse am Donnerstag vergangener Woche verkündet hat, die Verhandlungen mit der EU für vier Jahre auszusetzen und auch keine Finanzhilfen mehr anzunehmen. Universitäten sind seitdem im Streik, Schulen, Restaurants, Theater, Kinos geschlossen. "Hunderte von Beamten haben gekündigt, sie sind nervös", freut sich Khoshtaria. "Das ist es, was das System erschüttert." Erste Diplomaten distanzieren sich von der Regierung, Botschafter treten zurück.
80 Prozent der Georgier sind für den EU-Beitritt ihres Landes
Umfragen zufolge unterstützen etwa 80 Prozent der Georgier die Integration ihres Landes in die Europäische Union und die Nato. Die Beitritte sind als Ziel in der Verfassung verankert. Zum Jahresende 2023 verlieh die EU dem Land den Status eines Beitrittskandidaten, obwohl es die dafür erforderlichen Kriterien nicht erfüllte.
Doch die regierende Partei "Georgischer Traum" des Oligarchen Bidsina Iwanischwili bewegt Georgien zunehmend in Richtung Russland. Angesichts der anhaltenden Proteste verschärfte die Regierung zuletzt auch massiv die Rhetorik. Unverhohlen drohte Premierminister Kobachidse am Donnerstag damit, "den liberalen Faschismus aus Georgien vollständig zu verbannen." Die Formulierung "liberaler Faschismus" ist ein Kampfbegriff, der im Umfeld Putins seit Jahren verwendet wird, um Demokraten verächtlich zu machen.
Unabhängigkeitsbestrebungen wurden schon früher gewaltsam unterdrückt
Diese wollen Georgien aber nicht den Mächtigen in Russland überlassen. Fast 200 Jahre war das Land von Moskau aus besetzt, erst vom Zarenreich, später von der Sowjetunion. In der gesamten Zeit gab es immer wieder Unabhängigkeitsbewegungen, die teils mit brutalster Gewalt niedergeschlagen wurden. Im April 1989 gingen sowjetische Spezialkräfte mit Giftgas gegen Demonstranten vor. Derzeit laufen in Tiflis Untersuchungen, ob das Wasser der Wasserwerfer, das die Polizei zuletzt gegen Protestierende eingesetzt hat, giftige Substanzen enthielt.
In einem Interview mit einem französischen Radiosender Anfang der Woche verglich die proeuropäische Staatspräsidentin Salome Surabischwili die Einsatzkräfte mit russischen und sowjetischen Spezialeinheiten, die Putins Diktatur auf Moskaus Straßen mit äußerster Brutalität absichern: "Ist die Sowjetunion zurückgekehrt?", fragt sie auf "X" und ruft um Hilfe: “Es ist an der Zeit, starken Druck auf die Regierungspartei auszuüben, die das Land einfach ins Meer wirft! Beeilen Sie sich, sonst ist es zu spät.”
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Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent.