Ungarische EU-Ratspräsidentschaft : Rückt Orbán die EU noch weiter nach rechts?
Mit Viktor Orbán hat am 1. Juli ein Rechtspopulist den Vorsitz im EU-Rat übernommen - ausgerechnet in einer Zeit, in der Europa nach rechts strebt.
Viktor Orbán, hier bei einem Nato-Gipfel im vergangenen Sommer, hat turnusmäßig am 1. Juli für sechs Monate den Vorsitz des EU-Rats übernommen.
Wenige Tage vor Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli gab der belgische Premier Alexander De Croo dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán einen Tipp mit auf den Weg: "Dieser Posten bedeutet nicht, dass man der Boss in der EU ist", sagte De Croo, dessen Land seit Jahresbeginn die EU-Präsidentschaft innehatte. In der EU seien Kompromisse unabdinglich. Darin müsse sich auch Orbán üben.
Inwieweit der ungarische Ministerpräsident dem Rat folgt, wird sich zeigen. In Brüssel und den europäischen Hauptstädten wird erwartet, dass Orbán die kommenden sechs Monate nutzen wird, um sich und seine illiberale Politik zu inszenieren. Gleichzeitig hoffen viele, dass die Auswirkungen gering bleiben. Der Einfluss einer Ratspräsidentschaft sei groß, wenn sie Dinge vorantreiben will, argumentiert etwa der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. "Er ist nicht groß, wenn sie blockieren will."
Ratspräsidentschaften nach einer Europawahl entscheiden meist wenig
Ungarn wird in diesem Halbjahr die Tagesordnung im Rat gestalten. Auf dem Programm stehen 37 offizielle Ratssitzungen inklusive zwei EU-Gipfeln und rund 1500 Sitzungen von Arbeitsgruppen. Aber die Ratspräsidentschaft agiere dabei "in einem engen institutionellen Korsett", argumentiert Thu Nguyen von der Denkfabrik Jacques Delors Centre. Über die großen Linien bestimmen die EU-Kommission und die Staats- und Regierungschefs.
Ohnehin wird das zweite Halbjahr 2024 eine Periode des Übergangs sein nach der Europawahl im Juni und dem Start einer neuen EU-Kommission, die wohl frühestens im November ihre Arbeit aufnehmen wird. In den Ratspräsidentschaften, die einer Europawahl folgen, wird wegen des Personalwechsels traditionell wenig entschieden.
Orbán wird die Aufmerksamkeit maximal nutzen wollen
Nach der Europawahl 2019 erzielte die finnische Ratspräsidentschaft gerade einmal bei 18 Gesetzestexten eine Einigung. Zum Vergleich: Die französische Ratspräsidentschaft 2023 konnte dagegen 130 Gesetzesvorhaben zu einem Abschluss bringen. "Wenn es eine Zeit geben sollte, in der die ungarische Ratspräsidentschaft so wenig Schaden wie möglich anrichten kann, dann ist das in diesem Halbjahr", prognostiziert Europarechtlerin Nguyen.
Allein mit dem Motto der Präsidentschaft hat Orbán aber deutlich gemacht, dass er die erhöhte Aufmerksamkeit maximal nutzen will. "Make Europe great again" lautet der ungarische Leitsatz, angelehnt an den Slogan, mit dem Donald Trump im Jahr 2016 die Wahl zum US-Präsidenten gewann. Viktor Orbán hat seiner Bewunderung für Trump nie verhehlt. Im März besuchte er den Kontrahenten von US-Präsident Joe Biden in Florida - ein Schritt, der viele in Washington und auch Europa verwunderte. Eine mögliche Wiederwahl Trumps am 5. November würde nun in die ungarische Ratspräsidentschaft fallen.
Nähe zu Russlands Präsident Putin irritiert viele
Nicht nur mit seiner Begeisterung für Trump unterscheidet sich Orbán von anderen Staats- und Regierungschefs in der EU. Auch seine Nähe zu Russlands Präsident Wladimir Putin irritiert viele. Immer wieder hat Orbán Sanktionen gegen Russland verzögert und verwässert, zuletzt allerdings das 14. Sanktionspaket der EU mitgetragen. Wegen seiner Haltung sei es wahrscheinlich, "dass die Gespräche zu weiteren Russland-Sanktionen ins Stocken geraten", erwartet der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Freund. Als einer der letzten EU-Staats- und Regierungschefs ist Orbán in dieser Woche nach Kiew gereist. Fast alle anderen hatten schon zuvor vor Ort ihre Solidarität mit der Ukraine bekundet, die gegen eine russische Invasion kämpft. Orbán dagegen drängte in Kiew auf einen schnellen Waffenstillstand. Waffenlieferungen an die Ukraine hatte er bisher kritisiert und verlangsamt, aber nie komplett blockiert.
Speziell ist die ungarische Ratspräsidentschaft auch, weil erstmals ein Land sie innehat, das massiv gegen EU-Recht verstößt. Die EU-Kommission hält wegen Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit 19 Milliarden Euro an Fördergeldern zurück. Konkret geht es um Mängel im Justizsystem, Einschränkung der Medienfreiheit und Korruption. Schon seit Jahren klagen ausländische Unternehmen über Schikanen der Regierung. Orbán hat offen zugegeben, dass er bestimmte Branchen in ungarischen Besitz bekommen möchte. Zuletzt hat die Regierung die Zivilgesellschaft und Journalisten mit einer eigens geschaffenen Behörde ins Visier genommen. Der Ministerpräsident stört sich an regierungskritischen Organisationen wie Transparency International, die auf die systematische Korruption hinweisen. Angesichts dieser Defizite hatte das Europäische Parlament im vergangenen Jahr in einer Resolution angezweifelt, dass Ungarn den Ratsvorsitz "glaubwürdig" ausüben kann. Dies blieb aber folgenlos.
Orbán will vom Rechtsruck in Europa profitieren
Viktor Orbán wird während der EU-Ratspräsidentschaft versuchen, Kapital aus dem Rechtsruck in der EU zu schlagen. Bei der Europawahl haben rechte Parteien deutliche Zuwächse erzielt, genauso bei der Parlamentswahl in Frankreich. In den Niederlanden regiert erstmals eine Koalition, in der die rechte Partei für die Freiheit die stärkste Kraft ist.
"Der politische Wandel hat begonnen", unterstreicht Orbán, der sogar so weit geht zu behaupten, dass eine Ära, die 1989 mit dem Mauerfall begonnen habe, nun ende. Orbán hat gemeinsam mit den Parteichefs der österreichischen FPÖ und der tschechischen ANO eine neue Allianz gegründet. Die "Patrioten für Europa" sollen die stärkste rechte Fraktion im Europäischen Parlament werden und sollen Europa in den Worten von Orbán verändern. "Der Sternenhimmel ist die Grenze", sagte er bei einer Pressekonferenz. An diese Stimmlage wird sich Europa in den kommenden Monaten gewöhnen müssen.
Die Autorin ist EU-Korrespondentin.
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