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Linda Greenhouse im Interview : "Frauen haben schon immer abgetrieben"

Die ehemalige Gerichtsreporterin der New York Times über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA und welche Bedeutung es bei den anstehenden Wahlen hat.

29.10.2024
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3 Min
Foto: picture alliance / NurPhoto / Bryan Olin Dozier

Das Thema Abtreibung polarisiert wie kaum ein anderes in den USA: Hier demonstrieren Abtreibungsgegner und -befürworter vor dem Supreme Court in Washington.

#1

Frau Greenhouse, vor 50 Jahren hat der Oberste Gerichtshof der USA mit der Entscheidung Roe versus Wade ein weitgehendes Recht auf Schwangerschaftsabbruch eingeräumt. 2022 kippte das Gericht die Entscheidung. Wie schätzen Sie die historische Bedeutung von Roe v. Wade ein?

Linda Greenhouse: Roe v. Wade hat eine zentrale Rolle in der amerikanischen Geschichte gespielt. Es war nicht nur entscheidend, weil es Millionen Frauen in den USA einen sicheren und legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ermöglichte, sondern auch, weil es die Beziehung zwischen dem Obersten Gerichtshof und der Öffentlichkeit nachhaltig beeinflusste. Das Gericht trat als Hüter von Frauenrechten auf, was gleichzeitig in anderen Teilen der Bevölkerung heftigen Widerstand auslöste.

#2

Roe v. Wade galt jahrzehntelang als Meilenstein auf dem Gebiet der reproduktiven Rechte. Welche gesellschaftlichen und rechtlichen Veränderungen hat diese Entscheidung in den USA ausgelöst?

Linda Greenhouse: Es ist wichtig, die Auswirkungen von Roe v. Wade nicht überzubewerten. Frauen haben schon immer abgetrieben - in den Jahren vor der Entscheidung schätzte man die Zahl auf über 500.000 pro Jahr. Heute sind es ungefähr doppelt so viele Abbrüche im Jahr. Meiner Ansicht nach hat der Oberste Gerichtshof in diesem Fall nicht aktiv sozialen Wandel herbeigeführt, sondern diesen vielmehr gespiegelt. Die zentrale Frage war nicht, ob Abtreibungen durchgeführt werden sollten, sondern ob sie sicher und legal sein sollten. Vor Roe v. Wade waren Schwangerschaftsabbrüche in den meisten Bundesstaaten illegal; im Januar 1973 wurden sie plötzlich überall legal. Doch das war nicht das Ende der Geschichte, sondern der Beginn eines neuen Kapitels: des Widerstands gegen diese Entscheidung, sowohl religiöser als auch politischer Natur.

Foto: privat
Linda Greenhouse
war von 1978 bis 2008 Gerichtsreporterin der "New York Times". 1998 wurde sie für ihre Berichterstattung über den Supreme Court mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Heute lehrt Greenhouse an der Yale Law School in New Haven, Connecticut.
Foto: privat

#3

2022 hat der Oberste Gerichtshof das Urteils Roe v. Wade gekippt und damit das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch aufgehoben. Wie wirkt sich das auf die bevorstehenden US-Wahlen aus?

Linda Greenhouse: Das ist so kurz vor den Wahlen eine spannende Frage. In zehn Bundesstaaten werden die Wählerinnen und Wähler in diesem Herbst darüber entscheiden können, ob sie das Recht auf Abtreibung in ihren Verfassungen verankern wollen. Daher spielt das Thema auch im Wahlkampf eine zentrale Rolle. Die Mehrheit der Öffentlichkeit möchte das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch bewahren. Das könnte für die Demokraten von Vorteil sein. Ob es jedoch ausreicht, um die Wahlen zu gewinnen, bleibt abzuwarten.

#4

Wie hat sich das Verhältnis der Amerikaner zum Obersten Gerichtshof verändert, nachdem das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch gekippt wurde?

Linda Greenhouse: Die öffentliche Zustimmung zum Obersten Gerichtshof ist nach dem Urteil drastisch gesunken - von etwa 60 Prozent auf knapp 40 Prozent. Viele Menschen fragen sich, ob das Gericht rechtmäßig gehandelt hat oder ob die fünf katholischen Richter, die die Mehrheit bildeten, nur eine religiöse und politische Agenda verfolgten. Drei dieser fünf Richter wurden von Donald Trump in den Gerichtshof berufen, der versprochen hatte, Richter zu ernennen, die das Urteil aufheben würden. Seitdem die Öffentlichkeit das mitbekommen hat, begegnet sie dem Gerichtshof mit mehr Misstrauen.

#5

Welche Rolle sehen Sie für den Obersten Gerichtshof in einer zunehmend polarisierten politischen Landschaft?

Linda Greenhouse: Die Frage ist, ob das Gericht die Polarisierung verursacht oder ob es selbst ein Opfer unserer polarisierten Politik ist. Meiner Ansicht nach trifft beides zu. Das Gericht wird zunehmend als politisch motiviert wahrgenommen, was gefährlich für seine Legitimität ist. Denn die Macht des Gerichts hängt stark davon ab, dass die Öffentlichkeit seine Entscheidungen als legitim akzeptiert.

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