Kontinuitätsprinzip : Die versteinerte Kanzlerin
Angela Merkel und ihre Minister lenken bis zur Wahl eines neuen Regierungschefs die Geschicke des Landes. Grund ist das Kontinuitätsprinzip.
Wenn sich am 26. Oktober die Abgeordneten zur konstituierenden Sitzung des 20. Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin versammeln, dann wird die Regierungsbank im Plenarsaal verwaist sein. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und alle anderen Minister im Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die erneut ein Bundestagsmandat errungen haben, werden als einfache Parlamentarier in den Reihen ihrer Fraktionen Platz nehmen. Und Merkel, die nicht wieder für den Bundestag kandidiert hat, wird voraussichtlich ebenso auf der Zuschauertribüne sitzen wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp Karrenbauer (CDU) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), die auf ihre Mandate zugunsten jüngerer Unionsabgeordneter verzichten.
Nach Amtsende noch im Amt
Wenn Wolfgang Schäuble (CDU) als Alterspräsident die Sitzung eröffnet, endet zugleich die Amtszeit der Kanzlerin und ihrer Minister. So ist es im Grundgesetz (Artikel 69 Absatz 2) eindeutig geregelt. Und trotzdem wird Merkel doch noch Bundeskanzlerin und Scholz Finanzminister sein. Der vermeintliche Widerspruch ergibt sich aus dem in Artikel 69 Absatz 3 verankerten Kontinuitätsprinzip: "Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ist ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen", heißt es dort. Diese Regelung soll sicherstellen, dass die Bundesrepublik politisch nach Innen und Außen jederzeit handlungsfähig ist.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist es nach gängiger Grundgesetzauslegung auch nicht freigestellt, ob er Merkel um die Weiterführung ihrer Amtsgeschäfte ersucht. Er muss dies tun. Eine Ausnahme von dieser Regel würde lediglich greifen, wenn die Bundeskanzlerin aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage wäre, die Amtsgeschäfte zu führen. In diesem Fall würden die Aufgaben der geschäftsführenden Regierungschefin durch Olaf Scholz, den sie gemäß Artikel 69 Absatz 1 zu ihrem Stellvertreter ernannt hat, wahrgenommen.
Gesetzesvorlagen und Haushalt
Prinzipiell verfügt eine geschäftsführende Regierung über die gleichen Rechte wie eine regulär gebildete. Sie kann Gesetzesvorlagen oder den Bundeshaushalt in die parlamentarische Beratung einbringen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen. Ebenso gilt weiterhin die im Grundgesetz (Artikel 65) formulierte Richtlinienkompetenz des Kanzlers sowie das Ressort- und Kollegialitätsprinzip innerhalb des Regierungskabinetts.
Auch wenn Staatsrechtler mitunter darauf hinweisen, dass sich eine geschäftsführende Bundesregierung wegen ihres Übergangscharakters vor allem in außenpolitischen Fragen in größtmöglicher Zurückhaltung üben sollte, ist es gerade die Außenpolitik, die eine geschäftsführende Kanzlerin Merkel fordern könnte, sollte sich die Bildung der neuen Regierung hinziehen. So beraten beispielsweise die Staats- und Regierungschefs auf der Weltklimakonferenz vom 31. Oktober bis zum 12. November in Glasgow darüber, wie die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens eingehalten werden können.
Die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen kann nur die Regierung beantragen
Da gerade die zukünftige Klimaschutzpolitik zu den Knackpunkten in den Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP über eine Koalition gehören, kann Merkel auf der Konferenz keine glaubwürdigen Zusagen machen, die über die bisherige Klimaschutzpolitik der Bundesregierung hinausgehen. Zum Jahreswechsel übernimmt Deutschland von Großbritannien zudem die Präsidentschaft der G7-Staaten.
Bis spätestens Ende Januar 2022 muss der Bundestag obendrein über eine mögliche Verlängerung der Bundeswehreinsätze in Jordanien und im Irak entscheiden. Der dafür notwendige Antrag kann laut Parlamentsbeteiligungsgesetz aber nur von der Bundesregierung vorgelegt werden.
Eine Kabinettsumbildung durch Ernennung neuer Minister ist nicht vorgesehen
Eingeschränkt ist Angela Merkel als geschäftsführende Kanzlerin in Personalfragen. Frei werdende Kabinettsposten darf sie an amtierende Minister in Vertretung vergeben. Eine Kabinettsumbildung durch Ernennung neuer Minister sieht das sogenannte "Versteinerungsprinzip" nicht vor. Lediglich die Entlassung von Ministern ist möglich.
Bei der Wahl des Bundeskanzlers kommt dem Staatsoberhaupt eine entscheidende Rolle zu. Vor allem wenn Koalitionsverhandlungen scheitern.
Der scheidende Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) über den Wandel im Parlament, Gewissensentscheidungen und Veränderungsdruck.
Ebenso kann Merkel keine Vertrauensfrage nach Artikel 68 Grundgesetz stellen, da das Parlament ihr nach Ablauf ihrer regulären Amtszeit nie das Vertrauen durch Wahl ausgesprochen hat. Umgekehrt kann der Bundestag kein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 Grundgesetz anstreben, um auf diesem Weg einen neuen Kanzler zu wählen. Dies ist nur auf dem Weg der Kanzlerwahl nach Artikel 63 möglich.
Das Parlament verfügt über alle Kontrollrechte
Abgesehen von dieser Einschränkung verfügt der Bundestag gegenüber einer geschäftsführenden Regierung über alle Kontrollrechte und Aufgaben. Dazu gehört auch die Einsetzung der Ausschüsse. Da diese in aller Regel spiegelbildlich zu den Bundesministerien eingesetzt werden, hat der Bundestag nach den Wahlen von 2013 und 2017 übergangsweise einen sogenannten Hauptausschuss eingesetzt. Diese Verfahren führte angesichts der sich hinziehenden Regierungsbildung zu Beginn der auslaufenden Legislatur zu Kritik, da das Grundgesetz die Einrichtung des Auswärtigen-, des Europa-, des Verteidigungs- und des Petitionsausschusses ausdrücklich vorschreibt. So wurden die Ausschüsse schließlich Ende Januar 2018 eingerichtet. Die Wiederwahl Merkels ließ noch bis Mitte März auf sich warten.