Editorial : In der Hand des Volkes
Parlamente wie der Bundestag sind mit ihrem Ringen um Kompromisse auch Werkstätten der Demokratie. Über ihr Gelingen entscheidet letztlich der Wähler.
Mit ihren 75 Jahren ist die Bundesrepublik älter als das Kaiserreich von 1871, die Weimarer Republik und das nationalsozialistische "Dritte Reich" zusammen. Anders als im dreiviertel Jahrhundert zuvor durften die Deutschen die zurückliegenden 75 Jahre trotz Ost-West-Konflikt ohne Krieg erleben, nachdem die NS-Herrschaft den Wert von Frieden und Freiheit drastischer denn je vor Augen geführt hatte.
Freilich konnte sich die DDR-Bevölkerung erst nach 40 Jahren die Freiheit erkämpfen, die den Deutschen im Westen schon in den Nachkriegsjahren ohne eigenen Verdienst zuteilgeworden war. An den Bundesbürgern indes lag es, dass sich in der Bundesrepublik eine gefestigte Demokratie und zunehmend offenere Gesellschaft entwickelte, in parlamentarischen wie außerparlamentarischen Kontroversen. Den Rahmen dafür gab das Grundgesetz vor, während der Bundestag diese Entwicklungen widerspiegelte, inhaltlich wie in seiner Zusammensetzung, in Debatten und Gesetzesbeschlüssen. Dabei handelten und handeln die Abgeordneten, wie es in der Verfassung heißt, als "Vertreter des ganzen Volkes", legitimiert in mittlerweile 20 freien, demokratischen Wahlen mit Beteiligungswerten zwischen 91,1 Prozent (1972) und 70,8 Prozent (2007).
Rekord von 93,4 Prozent bei ersten freien Wahlen in der DDR
Eine Rekordbeteiligung von 93,4 Prozent gab es 1990 in der DDR bei der freien Volkskammer-Wahl, die damit auch ein Plebiszit für die parlamentarische Demokratie war; vier von fünf der dabei gewählten Abgeordneten stimmten für den Beitritt zum "Geltungsbereich des Grundgesetzes". Beeindruckende Zahlen, wie auch das seither trotz aller Verwerfungen in Ostdeutschland Erreichte beeindruckt. Doch ist solche Zustimmung lange her, und nicht nur in Deutschland waren in den letzten Jahren ganz andere Kräfte im Aufwind.
Dabei sind Parlamente wie der Bundestag mit ihrem Ringen um Kompromisse auch Werkstätten der Demokratie, die trotz aller Kontroversen divergierende Kräfte zusammenzuführen sucht. Gelingen kann ihr dies freilich nur bei einem grundsätzlichem Einverständnis über Grundlegendes wie etwa die Menschenwürde, die Minderheitenrechte, die Gewaltenteilung. Ein solches Einverständnis in demokratisch gewählten Volksvertretungen zu stärken, liegt in der Hand des Volkes, sprich: der Bürger. Er ist der Souverän, er hat die Wahl.
In 75 Jahren haben dem Bundestag mehr als 4.000 Parlamentarier angehört. Der Durchschnittsabgeordnete ist männlich und ohne Migrationshintergrund.
Seit 75 Jahren sorgt der Bundestag für Stabilität. Doch viele treibt der Verdacht um, dass die Zeit der wirklichen Bewährung erst kommt.
Die Historikerin darüber, warum Demokratie zuerst auf der kommunalen Ebene stirbt, es bessere Teilhabe braucht und sie unsere Demokratie trotzdem für stabil hält.