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Foto: DBT / Thomas Köhler / photothek
Roman Schwarzman, der diesjährige Gedenkredner, war sieben Jahre alt, als er aus dem deutsch-rumänisch kontrollierten Ghetto Berschad in der Ukraine befreit wurde.

Holocaust-Gedenken im Bundestag : In der Stille der Republik

In einer Gedenkstunde erinnert der Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus. Szenen einer Stunde, in der das Stille ganz laut wird.

30.01.2025
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5 Min

Es gibt Worte, die stechen die Seele. "Die jungen Männer sind kampferprobt", beginnt Bärbel Bas die Sitzung. "Der Anblick Toter ist für sie alltäglich. Doch keiner von ihnen ist vorbereitet auf das, was sie in Auschwitz erwartet." Die Bundestagspräsidentin zitiert Augenzeugenberichte an diesem Mittwoch in Berlin, und währenddessen ist es, als hörte man den Atem der vielen Versammelten, im Plenum und auf den Besuchertribünen. "Ein beißender Geruch: der Gestank nach verbranntem Fleisch. Von oben fällt dunkle Asche auf den Schnee." 

Ihre Worte tragen jenen Moment der Weltgeschichte heran, als Soldaten der Roten Armee vor 80 Jahren mit ihren Panzern den Stacheldraht zum Vernichtungslager Auschwitz in Polen aufreißen und die Überlebenden des deutschen Naziterrors befreien. "Jede und jeder von uns sollte sich immer wieder die Frage stellen", folgert Bas, "was bin ich bereit, für das 'nie wieder' zu tun." Die Abgeordneten klatschen, nur ein paar von ihnen aus der AfD-Fraktion rechts von Bas verweigern den Applaus.

Bundestagspräsidentin Bas mahnt zur Verantwortung

Es ist die Gedenkstunde zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Kurz vor zwölf hatte sich das Plenum wie von Geisterhand gefüllt, mit einem Mal kamen die Abgeordneten heran. Doch anstatt des gewohnten Plauderns hier und da herrschte eine Anspannung, eine Erwartung. SPD-Chef Lars Klingbeil stellte sich kurz zu Verteidigungsminister Boris Pistorius an die Regierungsbank, andere SPD-Minister gesellten sich dazu. Alles war gedämpft. Ex-Justizminister Marco Buschmann von der FDP schritt entlang, schaute an den ehemaligen Ressortkollegen vorbei und steuerte zielstrebig Thorsten Frei im Plenum an, doch der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion gab ihm nur kurz die Hand und setzte sein Flüstergespräch fort.

Die Migrationsdebatte, der Wahlkampf - all dies scheint nun weit weg in dieser einen Stunde. Oben haben derweil Ehrengäste Platz genommen, die 103-jährige Margot Friedländer, die den Holocaust überlebte, und neben ihr die Schauspielerin Iris Berben. Hinter ihnen die ehemaligen Bundespräsidenten Gerhard Gauck und Christian Wulff und die ehemaligen Bundestagspräsidenten Rita Süßmuth und Wolfgang Thierse. "Einige Menschen in Deutschland wollen nichts mehr hören vom Holocaust", sagt Bas. "Sie wollen sie endlich los sein, die Verantwortung." AfD-Fraktionschefin Alice Weidel schaut während der Rede meist nach unten, zuweilen auf ihr Handy.

Steinmeier: "Nehmt die Feinde der Demokratie ernst!"

In dieser Stunde zeigt sich das Licht in der Plenarkuppel unschlüssig. "Die Sonne scheint auch dort", sagt Bas über ihre Besuche in Auschwitz, aber Berlin hüllt sich gerade in grau. Keine Besucher laufen die Kuppeltreppe hoch, draußen patrouillieren Polizeistreifen und die Fahrradständer rund um den Reichstag sind abgesperrt. Als drei Streicher zu einem Molto Vivace von Gideon Klein ansetzen, irgendwie humorvoll und lebensvoll zugleich, schaut ihnen die Staatsspitze zu: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender, Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger und Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth. Sie alle sitzen kerzengerade in der ersten Reihe, nur einer in ihrer Mitte reckt seinen Kopf etwas in die Höhe: Roman Schwarzman, 88, wird gleich die Gedenkrede halten; noch lauscht er den Noten des Komponisten, der in Auschwitz wenige Stunden vor der Befreiung gestorben war.


Frank-Walter Steinmeier während der Gedenkrede
Foto: DBT / Thomas Köhler / photothek
„Wer heute die Demokratie lächerlich macht, verachtet, angreift, der ebnet eben auch den Weg zu Hass, Gewalt und Menschenfeindlichkeit. “
Frank-Walter Steinmeier

Vor Schwarzman ist es jedoch an Steinmeier, ebenso wie seine Vorrednerin Bas das Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers durch Sowjetsoldaten mit einem Bezug zur Gegenwart zu verknüpfen. Der Bundespräsident adressiert alle in Deutschland, die den Holocaust "verdrängen, verharmlosen oder vergessen" wollen. Damit werde das Fundament erschüttert, auf dem die Demokratie gewachsen sei. Dabei gelte doch: "Wer heute die Demokratie lächerlich macht, verachtet, angreift, der ebnet eben auch den Weg zu Hass, Gewalt und Menschenfeindlichkeit." Unsere Demokratie sei die Antwort auf Rassenwahn und Nationalismus, sagt das Staatsoberhaupt. 

Am Ende seiner Rede kommt Steinmeier auf den Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub zu sprechen. Der hatte gemahnt, die Feinde der Demokratie ernst zu nehmen: "Ich wiederhole es hier im Deutschen Bundestag", ruft Steinmeier für seine Person ungewohnt laut: "Nehmt die Feinde der Demokratie ernst!" Da klatschen dann alle, aus allen Fraktionen. Auf die Kuppel fallen Regentropfen.

Abwasser der Besatzer wurde zum Lebensretter

Bei Roman Schwarzman dagegen hagelt es. Er erzählt in seiner Rede von den Bomben, vor denen er als Kind floh, vorm Maschinengewehrfeuer, ab durch die Maisfelder. Der in Odessa Geborene überlebte im Ghetto, "ich erinnere mich immer noch an Geschmack des Wassers, das die Besatzer nach dem Waschen von Fleisch weggeschüttet haben", erzählt er, und im Nachklang schwingt das Aufmerken mit: Zu den Kindern und Kindeskindern dieser Besatzer spricht er gerade in diesem Moment. "Für sie war es Abwasser, und wir, fünf- bis sechsjährige Kinder, schlüpften durch den Stacheldraht und riskierten unser Leben, um uns dieses köstlich schmeckende Wasser mit dem Fett darin zu erbetteln." Vielleicht sei es gerade dieses Wasser gewesen, sagt er, dank dem sie überlebt haben.


„Wir brauchen Ihre Unterstützung, um die Menschen in den besetzten Gebieten zu befreien. Die Welt muss aufhören, Angst zu haben!“
Roman Schwarzman

Schwarzman kommt aus einer umkämpften Stadt. "Damals wollte Hitler mich töten, weil ich Jude bin", sagt er. "Jetzt versucht Putin, mich zu töten, weil ich Ukrainer bin." Schwarzman engagiert sich in der ukrainischen Hafenstadt für den Bau eines Denkmals zur Erinnerung an 25.000 Juden, die im Oktober 1941 von rumänischen Soldaten und deutschen Sondereinheiten in Hallen getrieben und verbrannt worden waren. Dieser Bau stockt, wegen des Angriffskriegs des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Schwarzman hat einen Appell mitgebracht. "Wer glaubt, dass Putin sich mit der Ukraine zufrieden geben wird, täuscht sich." Und zählt auf: Flugabwehr, Flugzeuge, Langstreckenflugkörper - "Wir brauchen Ihre Unterstützung, um die Menschen in den besetzten Gebieten zu befreien. Die Welt muss aufhören, Angst zu haben!" Als der Saal applaudiert, rühren sich Weidel und ihr Kollege Tino Chrupalla an der AfD-Fraktionsspitze nicht.

Inne hielt vor Schwarzmans Rede auch eine Pianistin vorm Flügel für einen langen Moment, erst dann spielte sie Klaviervariationen der Komponistin Felicitas Kukuck und beschloss sie mit tiefsten Tönen, die einen auch innehalten ließen.

Am Ende der Gedenkstunde schimmert die Sonne langsam durchs Grau. Der Plenarsaal leert sich so schnell, wie er zusammengekommen war. Zwei Saaldiener gehen Schwarzman, bei Bas untergehakt, voran. Dahinter die Vertreter der Staatsspitze. Schweigsam verlassen auch alle Abgeordnete den Kuppelbau. Eine kurze Pause nach diesem einzigen Innehalten, bevor es weiter geht mit Migrationsdebatte und Wahlkampf, hektischen Zwischenrufen und nicht immer freundlichem Blick. Schließlich bringen Bundestagsbeschäftigte drei Kränze aus dem Saal. Chrysanthemen und Rosen, Glockenblumen und Nelken - alles in einem frischen Weiß, dem am Ende der Himmel über Berlin folgt und sich schließlich selbst in eines taucht.

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