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Foto: DBT/Stella von Saldern
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz war das größte Gefangenenlager der Nationalsozialisten. Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden dort ermordet.

Jugendbegegnung in Auschwitz : Für eine Zukunft ohne Hass

Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz reisen 76 junge Erwachsene an den Ort des Verbrechens. Sie begegnen einer Überlebenden und kämpfen für das Gedenken.

31.01.2025
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8 Min

Als die Gruppe junger Erwachsener aus einer dunklen Holzbaracke tritt, versinkt die Sonne am Horizont. Der Himmel über der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau erstrahlt in leuchtendem Rosa, durchzogen von den letzten blauen Schleiern des Tages. Später werden viele der jungen Erwachsenen sagen, dass sie in diesem Moment dachten: Der Himmel ist viel zu schön für einen Ort des Grauens. Andere erzählen, sie haben sich bei dem Anblick gefragt: Konnten sich die Inhaftierten von Auschwitz an der Schönheit eines Sonnenuntergangs erfreuen? Oder war er für sie nur ein weiteres verstreichendes Stück Zeit in der Hölle?

Es ist der 25. Januar, ein kalter Samstag. Die Gruppe der jungen Erwachsenen hat eine sechsstündige Führung durch die Gedenkstätten hinter sich: drei Stunden im Stammlager Auschwitz und drei Stunden in Auschwitz-Birkenau. Die Gruppe, das sind 76 junge Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren, die im Rahmen der Jugendbegegnung des Bundestages nach Oswiecim (deutsch: Auschwitz) gereist sind. Sie engagieren sich in KZ-Gedenkstätten, und setzen sich so gegen Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus ein.

Bundestag würdigt Engagement junger Erwachsener

Als Anerkennung dafür hat sie der Bundestag eingeladen, zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz nach Polen zu reisen. Nina Ritz, Mitarbeiterin des Bundestages und eine der Organisatorinnen der Reise, sagt, das Ziel der Begegnung sei es, eine junge Generation, die bereits mit der Geschichte vertraut ist, zum Austausch zu bewegen. So sollen die Erinnerungen an die Opfer der Nazizeit lebendig bleiben und die Teilnehmenden die aktuellen Herausforderungen für die Demokratie besser verstehen - Herausforderungen wie beispielsweise den Aufstieg populistischer Parteien oder das sinkende Vertrauen in die Politik.

Dafür besuchen die jungen Erwachsenen im Rahmen der Jugendbegegnung eine Woche lang Gedenkstätten, sprechen mit Zeitzeugen und setzen sich mit der Erinnerungskultur auseinander. Einige von ihnen haben selbst Vorfahren, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Andere stammen aus Familien, in denen SS-Mitglieder Karriere machten. Die Teilnehmenden kommen aus Deutschland, aber auch aus Frankreich, Polen, Ungarn, Tschechien oder Österreich.

Durch ihre Arbeit an den Gedenkstätten und ihr freiwilliges Engagement haben sich die meisten der jungen Erwachsenen bereits intensiv mit dem Holocaust, Auschwitz und der NS-Vernichtungspolitik auseinandergesetzt. Doch Auschwitz ist ein Ort, auf den man nicht vorbereitet sein kann: Bereits beim Betreten des Geländes spürt man das Gewicht der Geschichte. Die Führung beginnt auf einem schmalen Weg, der von kahlen Betonwänden gesäumt ist. Sie versperren den Blick nach rechts und links und geben nur nach oben einen schmalen Blick in den Himmel frei. Über einen Lautsprecher verliest ein Mann mit tiefer Stimme die Namen der hier Ermordeten in alphabetischer Reihenfolge: Chaja Rotholc, Daniele Rotholc, Margalit Rotholc - Namen, die in der Unfassbarkeit der Zahlen beinahe unterzugehen drohen. Auf dem kurzen Weg zu den Baracken hören die jungen Männer und Frauen vielleicht zwanzig von ihnen. Einen winzigen Bruchteil.

Die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages

Die Internationale Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages findet seit 1996 jährlich aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus statt. In diesem Jahr war das Thema der Jugendbewegung der 80. Jahrestag der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar.

An der Jugendbegegnung haben in diesem Jahr 76 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren, überwiegend aus Deutschland, aber auch den europäischen Partnerstaaten Polen, Ungarn, Tschechien, Frankreich und Österreich teilgenommen. Die jungen Erwachsenen wurden vom Deutschen Bundestag eingeladen, da sie in KZ-Gedenkstätten arbeiten, dort ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren oder sich in anderen Institutionen gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus engagieren.



Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet. Die meisten starben in den Gaskammern, andere durch Hunger, Kälte, Krankheiten oder Zwangsarbeit. 1940 begannen die Nationalsozialisten, Auschwitz als Lager für polnische Gefangene zu nutzen. Später wurde es zum größten Vernichtungslager des Holocaust. Neben Jüdinnen und Juden wurden dort Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und jene umgebracht, die nicht in das Weltbild der Nazis passten. Die SS entschied nach der Ankunft der Deportierten über Leben und Tod. Wer arbeitsfähig schien, blieb. Die anderen gingen ins Gas.

Überreste des Grauens: Zwei Tonnen menschliches Haar

In Blog 5 im Stammlager-Auschwitz beginnt für viele Teilnehmenden dann der schwerste Teil des Tages: Hinter Vitrinen befinden sich persönliche Gegenstände der Ermordeten. 80.000 Schuhe liegen auf einem Haufen - rote Sandalen, kleine Kinderschuhe, schwere Stiefel. In unmittelbarer Nähe, eine Vitrine mit etwa 40 Kilogramm Brillen und ein Container mit 12.000 Kochtöpfen. Im Raum nebenan: Zwei Tonnen menschliches Haar - das wurde den Häftlingen abrasiert und für etwa 50 Pfennige pro Kilogramm an Textilfirmen verkauft. Gleichzeitig war es eine weitere Maßnahme der Nationalsozialisten, um den Gefangenen ihre Würde zu nehmen. Einem Jugendlichen kommen die Tränen. Eine junge Frau verlässt den Raum mit den Worten: "Mir ist schlecht."

Die Teilnehmerin Lea stammt selbst aus einer jüdischen Familie und berichtet, dass sie in der Gedenkstätte ganz bewusst die von den Nazis aufgenommenen Fotografien der Gefangenen betrachtet hat. “Es war schwer, denn die Menschen darauf sind abgemagert und blicken voller Angst in die Kamera. Doch ich fühlte mich verpflichtet, ihnen zumindest ins Gesicht zu sehen - besonders in dem Wissen, dass die meisten von ihnen hier ermordet wurden.”


„Der Himmel war vom Qualm verdunkelt, ein furchtbarer Gestank hing in der Luft. Um mich herum standen Reihe um Reihe nackte Frauen.“
Tova Friedmann, Holocaust-Überlebende

Eine, die das Grauen überlebt hat, ist Tova Friedman. Als Fünfjährige wurde sie nach Auschwitz deportiert. Sie gehört zu den vier Überlebenden, die in diesem Jahr bei der Gedenkstunde zum 80. Jahrestag der Befreiung am 27. Januar in Auschwitz sprechen. Auch die Jugendbegegnung verfolgt die Veranstaltung: Tova Friedman steht am Rednerpult; elegant und würdevoll. Sie trägt ein schwarzes Samtkleid und ihre pink lackierten Fingernägel haben die gleiche Farbe wie die ihres Lippenstifts.

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"Es war ein düsterer Sonntag, der Himmel war vom Qualm verdunkelt, ein furchtbarer Gestank hing in der Luft. Um mich herum standen Reihe um Reihe nackte Frauen", sagt Friedman über ihre Ankunft im Lager. Während sie spricht, fangen Fernsehkameras die Szene ein: Hinter Friedman das rot beleuchtete Torhaus von Auschwitz-Birkenau, davor ein alter Viehwaggon - einer von jenen, in denen die Nazis ihre Opfer in die Lager transportierten. Auch Friedman wurde in einem solchen Wagen hierhergebracht. "Es war heiß, ich hatte Hunger, ich war durstig, ich hatte furchtbare Angst." Damals war Friedman gerade einmal so groß wie die Schäferhunde der SS, erzählt sie. Nach einer Weile im Lager habe sie dann gemerkt, wie immer wieder Freundinnen aus den Nachbarbaracken verschwanden und nie wieder zurückkamen. Heute weiß die 86-Jährige: "Von ihnen ist nur Asche geblieben."

Rund 50 Auschwitz-Überlebende bei Gedenkveranstaltung zu Gast

Zu der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sind rund 3.000 geladene Gäste gekommen; Mitglieder königlicher Familien sowie hochrangige Staats- und Regierungschefs. Darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und für den Bundestag die Vizepräsidentin Petra Pau (Die Linke). Im Mittelpunkt stehen jedoch die Überlebenden - denn der 80. Jahrestag könnte einer der letzten sein, an dem noch Zeitzeugen teilnehmen. Etwa 50 von ihnen haben die Reise an diesen Ort des Grauens angetreten. Viele sind inzwischen über 90 Jahre alt - und für viele von ihnen ist Auschwitz der Friedhof ihrer Angehörigen.

Auschwitz, ein Ort des Todes. Und doch gab es Menschen, für die das Leben im Lager begann. Stefania Wernik ist eine von ihnen. Auch sie nimmt an der Gedenkfeier teil und hat bereits am Vortag mit den Teilnehmenden der Jugendbegegnung gesprochen und von ihrer Geschichte berichtet.

Überlebende Stefania Wernik: Geboren in der Hölle

"Ich wurde Anfang November 1944 in 'der Hölle' geboren - in Auschwitz-Birkenau", sagt die zierliche Frau mit den feinen Gesichtszügen und den rot gefärbten Haaren. Während sie spricht, herrscht absolute Stille im Raum - die Teilnehmenden der Jungendbegegnung hängen an ihren Lippen. Bei ihrer Geburt wog die Polin gerade einmal 2.000 Gramm, ihre Mutter, Anna Piekarz, nur noch knapp 30 Kilogramm. Bereits einen Tag nach der Geburt erhielt das Baby eine Häftlingsnummer - nicht wie die Erwachsenen auf den Arm tätowiert, sondern auf den linken Oberschenkel: 89136. Wernik sagt, es sei ein Wunder, dass sie und ihre Mutter überlebten.

Das Leben nach dem Lager Auschwitz sei von den traumatischen Erfahrungen der Mutter geprägt gewesen. Noch bis ins hohe Alter habe diese nachts im Schlaf geschrien: "Ich verhungere" oder "Doktor Mengele holt mein Kind". Die Teilnehmenden sind von Werniks Erzählungen tief bewegt. Nach ihren letzten Worten stehen sie auf, applaudieren. Manche haben Tränen in den Augen. Wernik wirkt erschöpft. Sie erzählt, dass sie ihr Leben lang oft krank gewesen sei - wahrscheinlich eine Folge ihrer ersten Lebensmonate im Lager, vermutet sie.

Gedenken an die Befreiung von Auschwitz-Birkenau

Am 27. Januar 1945 haben Soldaten der Roten Armee das NS-Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit. Aus diesem Anlass fand am vergangenen Montag eine Gedenkveranstaltung in der heutigen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau in Polen statt. Die Zahl der in Auschwitz und im dazugehörigen Vernichtungslager Birkenau ermordeten Menschen wird auf mindestens 1,1 Millionen geschätzt.

Eine Umfrage im Auftrag der Jewish Claims Conference hatte kürzlich ergeben, dass fast 40 Prozent der Befragten zwischen 18 und 29 Jahren in Deutschland keine korrekten historischen Angaben zur NS-Zeit machen konnten. Jeder zehnte Erwachsene kennt demnach die Begriffe Holocaust oder Schoah nicht.



Stefania Wernik und Tova Friedman gehören zu den 7.000 Menschen, darunter 700 Kinder, die noch am Leben waren, als die Rote Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite. Zuvor hatten die Deutschen angesichts der drohenden Niederlage und dem Vorrücken der sowjetischen Armee in einer einzigen Nacht noch 10.000 Häftlinge ermordet und zehntausende Gefangene zu Todesmärschen gezwungen, um sie in andere Lager zu verlegen. Friedman überlebte wahrscheinlich, weil sie sich unter einem Berg von Leichen versteckte, als die Nazis Häftlinge auf die Todesmärsche schickten. Wernik wahrscheinlich, weil ihre Mutter zu schwach war, um auf den Marsch zu gehen.

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Wie viele Überlebende fühlen sich auch Wernik und Friedman verpflichtet, ihre Geschichte weiterzugeben. Friedman hat sogar eigene Social-Media-Accounts auf TikTok und Instagram, auf denen sie über den Holocaust berichtet.

Wernik nutzt hauptsächlich Treffen wie mit den Teilnehmenden der Jugendbegegnung, um ihre Geschichte zu erzählen. Mehrmals sagt sie im Gespräch, was sie sich für die Zukunft wünscht: "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus." Am Ende sucht sie in ihrer Tasche noch nach einem Zettel. Sie hat sich extra aufgeschrieben, was sie den jungen Menschen mitgeben möchte. Wernik faltet das Papier auseinander und liest: "Lehnt Ideologien ab und sorgt dafür, dass es keinen Krieg und keinen Völkermord mehr gibt."

Junge Generation muss das Erbe der Zeitzeugen weitertragen

Maren, die sich neben ihrem Studium in der Gedenkstätte Osthofen engagiert, sagt über die Jugendbegegnung: "In dieser Woche hat sich etwas verändert." Zum einen fühlt sie sich in ihrer Arbeit in der KZ-Gedenkstätte bestärkt, zum anderen hat ihr der Austausch mit den anderen Teilnehmenden gezeigt, dass sie im Kampf gegen Rechtsextremismus nicht allein ist. Die Möglichkeit, an der Jugendbegegnung teilzunehmen und nach Polen zu reisen, empfindet sie als besondere Anerkennung durch den Bundestag für ihr Engagement. Besonders die Gespräche mit der Zeitzeugin haben ihr noch einmal verdeutlicht: "Gegen Rassismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit muss gekämpft werden, damit sich die Geschichte nicht wiederholt." Maren betont; “Wenn die Generation der Zeitzeugen stirbt, liegt es an uns, ihre Botschaften weiterzutragen.”

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