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Missstände bei der Exekutive : Scharfes Schwert, stumpfe Waffe

In der Geschichte des Bundestages spielen Untersuchungsausschüsse eine wichtige Rolle. Sie prägen das politische Geschehen, laufen aber oft ins Leere.

28.08.2024
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6 Min

Einen solchen Ansturm hatte die Katholische Akademie im Herzen der Hauptstadt noch nie erlebt. Als am 29. Juni 2000 mit Helmut Kohl, dem vormaligen Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden, der wichtigste Zeuge vor dem 1. Untersuchungsausschuss der 14. Wahlperiode des Bundestages erschien, war der Saal im Bildungszentrum des Berliner Erzbistums brechend voll. Fotografen, Kameraleute und Reporter balgten sich um die besten Plätze. 

Ausschuss sollte Herkunft anonymer Geldzuwendungen an die CDU klären

Bevor der Ausschussvorsitzende Volker Neumann (SPD) die Sitzung eröffnete, brach ein Blitzlichtgewitter über Kohl und seinen Rechtsbeistand Stephan Holthoff-Pförtner herein. Der ein halbes Jahr zuvor eingesetzte Untersuchungsausschuss, der die Herkunft anonymer Geldzuwendungen an die CDU und deren möglichen Einfluss auf Entscheidungen der Regierung klären sollte, erlebte einen spektakulären Höhepunkt.

Foto: picture-alliance/photothek/Thomas Imo

Altkanzler Helmut Kohl, hier im Juni 2000, musste wegen illegaler Spenden an die CDU vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen.

In der 75-jährigen Geschichte des Deutschen Bundestages spielen parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die es auch schon im Reichstag der Weimarer Republik gab, seit jeher eine wichtige Rolle. Sie sind nach Auffassung von Verfassungsexperten "das schärfste Schwert" der Volksvertreter bei der Kontrolle der Exekutive und sollen vor allem Missstände im Verantwortungsbereich der Bundesregierung behandeln, aber auch der "Selbstinformation" des Parlaments dienen. 

Seit 1949 hat der Bundestag 65 Untersuchungsausschüsse eingesetzt, dabei fungierte in 16 Fällen der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss. Allein in der ersten Legislaturperiode von 1949 bis 1953 waren neun Untersuchungsausschüsse aktiv, nur in einer Wahlperiode (1957 bis 1961) wurde kein Untersuchungsausschuss einberufen.

Beweise sammeln und Zeugen vernehmen wie vor Gericht

Bis zum Inkrafttreten des "Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages" (PUAG) am 19. Juni 2001 richteten sich die Verfahren nach den Bestimmungen des Grundgesetzes (Artikel 44 und 45), der Geschäftsordnung des Bundestages, den Regeln des Interparlamentarischen Ausschusses (IPA) und in Anlehnung an die Strafprozessordnung. Vergleichbar mit Gerichtsverhandlungen dürfen Untersuchungsausschüsse zur Beweiserhebung Akten und Dokumente, auch Verschlusssachen ("VS-Vertraulich"), von der Bundesregierung und nachgeordneten Behörden anfordern. Zeugen sind verpflichtet, auf Ladung zu erscheinen, andernfalls droht ein Ordnungsgeld. Sie können allerdings die Auskunft auf Fragen verweigern, wenn sie sich selbst oder Angehörige durch die Antworten strafrechtlich belasten würden.

Sitzungen sind in der Regel öffentlich

Um das Minderheitsrecht der Opposition zu wahren, muss das Parlament auf Antrag von mindestens einem Viertel der Abgeordneten einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Folgt die Mehrheit diesem Begehren nicht, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden, was in der Vergangenheit öfter geschehen ist. Der Bundestag bestimmt die Zahl der ordentlichen und stellvertretenden Mitglieder, welche die Fraktionen gemäß ihrer Stärke im Plenum entsenden. 

Den Vorsitz des 1. Untersuchungsausschusses einer jeden Wahlperiode stellt - unabhängig vom Untersuchungsgegenstand - die stärkste Fraktion. Alle anderen Fraktionen kommen bei weiteren Untersuchungsausschüssen proportional zu ihrer Größe zum Zuge. Die Sitzungen von Untersuchungsausschüssen sind in der Regel öffentlich, Ausnahmen können die Mitglieder per Zweidrittelmehrheit beschließen - etwa wenn der Geheimschutz berührt wird.


„Wann ist zuletzt jemand wegen eines Untersuchungsausschusses zurückgetreten?“
Hans Hofmann, Humboldt-Universität Berlin

Angesichts der weitreichenden Befugnisse von Untersuchungsausschüssen führten deren Einsetzung und Verlauf oft zu Kontroversen zwischen den Fraktionen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Ismayr begründete das mit der doppelten Funktion von Untersuchungsausschüssen als "Forum der Wahrheitsermittlung" und "Mittel des politischen Kampfes". 

Konflikte zwischen Mehrheit und Minderheit gab es deshalb meist nicht bloß im Vorfeld, bei der Formulierung des Untersuchungsauftrages etwa, sondern auch bei der Nominierung von Zeugen, der Anforderung von Beweismitteln und erst recht bei der Formulierung des Abschlussberichts, einschließlich der Möglichkeit von Sondervoten mit abweichenden Folgerungen. Schon immer hing die politische Wirkung der Ausschüsse nicht allein von den ermittelten Tatsachen ab. Ismayr wies obendrein der Öffentlichkeit eine maßgebliche Rolle als "Schiedsrichter" zu: "Entscheidend sind Art und Umfang der Berichterstattung und eigene journalistische Recherchen."

Die Prüfung von Nachrichtendienstarbeit sorgt besonders für Aufmerksamkeit

Als höchst interessant für die Medien haben sich dabei Untersuchungsausschüsse erwiesen, die sich mit den Tätigkeiten von Nachrichtendiensten beschäftigten. Das begann schon früh mit dem Ausschuss zum Verschwinden des ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, in der zweiten Wahlperiode und wurde bis in die jüngste Vergangenheit fortgesetzt ("Fallex", "Guillaume", "Kießling", "Plutonium", "Kurnaz", "NSA", "NSU").

Gerade bei der Prüfung von Vorgängen in den Geheimdiensten erzielten Untersuchungsausschüsse immer wieder beachtliche Erfolge. Große Wirkung in der Öffentlichkeit hatte der 1. Untersuchungsausschuss der 12. Wahlperiode, gleich nach der Wiedervereinigung im Oktober 1990. Es ging um die geheimen Umtriebe eines Mannes, der über viele Jahre als "Devisenbeschaffer" der DDR und Stasi-Oberst mit umfassenden Kompetenzen tätig war: Alexander Schalck-Golodkowski. Dessen Auftritte im Bonner "Langen Eugen" wurden von Abgeordneten wie Berichterstattern als ebenso informativ wie entlarvend empfunden. 

Drei Fakten zum Untersuchungsausschuss

✋ Er kann einberufen werden, wenn mindestens ein Viertel aller Abgeordneten des Bundestags das beantragt. 

🕵️ Er soll Missstände in Regierung und Verwaltung und mögliches Fehlverhalten von Politikern prüfen. Dazu kann er Zeugen vernehmen und sich auch geheime Akten vorlegen lassen.

📑 Die Ergebnisse der Untersuchung veröffentlicht der Ausschuss in einem Bericht.



Die Beweisaufnahme leuchtete mit dem von Schalck-Golodkowski geleiteten Finanzimperium unter dem verharmlosenden Titel "Kommerzielle Koordinierung" einen bis dahin wenig bekannten Graubereich des SED-Staats aus. Es ging um Bargeld und Erbschaften, Kunst und Antiquitäten, konkret um Millionenbeträge, die der "KoKo"-Offizier "mit konspirativen Methoden und rechtswidrigen Handlungen" zum Schaden vieler (ehemaliger) DDR-Bürger den Ost-Berliner Machthabern zuführte, wie es ein Ausschuss-Obmann formulierte.

Nicht jeder Untersuchungsausschuss konnte Missstände aufdecken

Freilich erreichten nicht alle Untersuchungsausschüsse ihr selbstgestecktes Ziel, Sachverhalte aufzuklären und Mängel aufzudecken, Verschleierung oder Verschleppung in Ministerien und Behörden zu enthüllen und individuelles Fehlverhalten zu benennen. Alt-Kanzler Kohl zum Beispiel nahm trotz hartnäckiger Bemühungen der Ausschussmitglieder das Geheimnis um die anonymen Spender zugunsten der CDU-Kassen mit ins Grab. Auch seine Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) wurden vor verschiedene Untersuchungsausschüsse zitiert, ohne dass die jeweilige Opposition ihnen schuldhaftes Versagen nachzuweisen vermochte. 

Diese Entwicklung, so Hofmann, habe nicht zuletzt mit der langen Dauer einzelner Untersuchungsausschüsse zu tun. Beim 2006 eingesetzten BND-Ausschuss vergingen immerhin drei Jahre bis zum Abschlussbericht, da habe das Publikum "das Interesse verloren". Außerdem fehle es nach Einschätzung des Juristen häufig an "politischen Konsequenzen: "Wann ist zuletzt jemand wegen eines Untersuchungsausschusses zurückgetreten?" Wie etwa Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU), der 1962 im Schatten von "Fibag"-Affäre und "Spiegel"-Skandal seinen Hut nehmen musste. 

Doch einige Ausschüsse prägten die politische Kultur nachhaltig

Demgegenüber meint Politikprofessor Ismayr, dass frühere Ausschüsse ("Flick" und "Neue-Heimat") die politische Kultur in Deutschland "nachhaltig beeinflusst" hätten. Auch der langjährige SPD-Justiziar Hermann Bachmaier, Vorsitzender des "Transnuklear"-Ausschusses (1988 bis 1990), urteilte positiv über das parlamentarische Kontrollinstrument: “Man kann Akten einsehen, die man als Opposition sonst nie sieht, und man kann Leuten Fragen stellen, die denen unbequem sind.”

Aus aktuellen Untersuchungsausschüssen

Stefan Heck als Vorsitzender im Ausschuss
Vorsitzender im Interview: "Offenbar war Ideologie wichtiger als eine Prüfung des Sachverhalts"
Nur knapp ein Jahr ist Zeit: CDU-Politiker Stefan Heck über die Ziele des neuen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung des Atom-Ausstiegs und den engen Zeitplan.
Collage: Jörg Nürnberger und Thomas Röwekamp im Porträt
Interview zum Afghanistan-Abzug: "Es fehlte weitgehend an Koordinierung"
Die Obleute von SPD und Union, Jörg Nürnberger und Thomas Röwekamp, ziehen eine Zwischenbilanz zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Afghanistan.
Evakuierung von Deutschen und Ortskräften aus Afghanistan im August 2021
Afghanistan-Ausschuss: Zu spät für einen Frieden?
Die innerafghanischen Friedensverhandlungen scheiterten 2021. Zeugen im Afghanistan-Untersuchungsausschuss zufolge war das absehbar.

Bewährt hat sich besonders die Einführung eines Ermittlungsbeauftragten, der den Ausschuss bei der Beweiserhebung unterstützt. Dafür mussten die Abgeordneten des Bundestages allerdings lange kämpfen - bis zum Gesetz über Untersuchungsausschüsse im Jahr 2001. Nicht zufällig wurde die Initiative damals von zwei SPD-Politikern massiv betrieben, deren Karriere 1983 im "Flick"-Ausschuss, der die illegalen Spenden des Düsseldorfer Konzerns an Politiker im Visier hatte, Fahrt aufnahm: Bundesinnenminister Otto Schily und Fraktionschef Peter Struck. 

Deshalb fällt die Bilanz von Hans Hofmann, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität und langjähriger Rechtsberater der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, und dem Bundeskanzleramt eher durchwachsen aus: Das vermeintlich "schärfste Schwert" der Opposition sei im Laufe der Zeit "(nahezu) wirkungslos geworden", weil "zu viele Untersuchungsausschüsse die Medien und die Öffentlichkeit saturiert" hätten.

Wer die Kunst des gezielten und effizienten Fragens beherrscht

Auch anderen gelernten Anwälten ermöglichte die Mitgliedschaft in Untersuchungsausschüssen, ihre Qualitäten im Bundestag zu entfalten: dem Grünen Hans-Christian Ströbele und dem Linken Gregor Gysi. Deren Kollege Bachmaier erklärte das in seinen Erinnerungen so: "Der Ablauf im Untersuchungsausschuss kommt dem Beruf des Advokaten sehr entgegen, er ist nahe an den Gepflogenheiten in einer gerichtlichen Strafverhandlung." Beide, Ströbele wie Gysi, verfügten über einschlägige Erfahrungen als Verteidiger bei bedeutenden Prozessen in West- und Ost-Deutschland. Sie beherrschten die Kunst, "gezielte und effiziente Fragen" zu stellen. 

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.