Afghanistan-Ausschuss : Zu spät für einen Frieden?
Die innerafghanischen Friedensverhandlungen scheiterten 2021. Zeugen im Afghanistan-Untersuchungsausschuss zufolge war das absehbar.
Für den Afghanistan-Untersuchungsausschuss war es eine Woche des Bilanzziehens. Erst präsentierten am Dienstagabend Mitglieder des Gremiums der Öffentlichkeit in beispielloser Offenheit erste Erkenntnisse und Rückschlüsse ihrer Arbeit und diskutierten darüber mit Experten und interessierten Besuchern. Die Vorgängerregierung der Ampel kam dabei nicht gut weg: Die Ministerien seien in den Monaten vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban im August 2021 an ihre Grenzen gestoßen, befand etwa Ann-Veruschka Jurisch (FDP) in der Runde. Die Strukturen hätten verhindert, "gemeinsame Lagebilder zu erstellen und gemeinsam zu handeln". Es habe keine Instanz gegeben, die diese Situation aufgelöst hätte.
Evakuierung von Deutschen und Ortskräften aus Afghanistan im August 2021: Warum der Abzug so chaotisch ablief, klärt seit Herbst 2022 ein Untersuchungsausschuss des Bundestages auf.
Sara Nanni von den Grünen urteilte, die Ministerien hätten die Lage bis kurz vor dem Fall der afghanischen Regierung unterschätzt. Vor allem beim Umgang mit den afghanischen Ortskräften hätten die Ministerien unterschiedliche Positionen vertreten und sich lange nicht auf eine Linie einigen können. Nannis Fazit: "In Sachen Ortskräfte ist alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte."
Kritik am Kanzleramt
Jörg Nürnberger (SPD) warf Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Bundeskanzleramt vor, nicht eingeschritten zu sein, als klar war, dass die Ressorts sich nicht einigen konnten. Der CDU-Politiker Thomas Röwekamp verwies indes auch auf Personalprobleme des Auswärtigen Amtes in Kabul. Es sei daher nicht in der Lage gewesen, den Ortskräften, die eine Zusage aus Deutschland erhalten hatten, selbst Visa auszustellen. Clara Bünger (Die Linke) fasste zusammen: "Der Ausschuss kann die Dinge nicht zurückdrehen, aber wir können herausfinden, was die deutsche Verantwortung war."
Bedenken gegen Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes
Der AfD-Abgeordnete Stefan Keuter äußerte hingegen grundsätzliche Bedenken gegen die Organisation der parlamentarischen Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes: Unter anderem kritisierte er die Trennung des Untersuchungsausschusses von der Enquete-Kommission, die parallel Lehren aus dem gesamten deutschen Engagement in Afghanistan ziehen soll.
In der regulären Sitzung des Ausschusses warfen die Abgeordneten dann zusammen mit zwei Zeugen einen Blick zurück ins Jahr 2020/2021. Damals verhandelten Taliban und afghanische Regierung über einen Frieden - eine Bedingung, die die USA den Taliban im Doha-Abkommen vom Februar 2020 auferlegt hatten, das den Abzug der ausländischen Truppen regelte. Die Gespräche fanden ab September 2020 in Doha (Katar) statt und scheiterten endgültig mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban am 15. August 2021. Warum kam es damals nicht zum Frieden? Im Ausschuss machten ein deutscher Diplomat und ein Experte aus Kolumbien mehrere Ursachen dafür aus.
Ziel der US-Administration unter Trump: Truppenabzug
Der kolumbianische Zeuge, Architekt des Friedensvertrages mit der FARC-Guerilla und in Doha zur Unterstützung der Verhandlungen dabei, vertrat die Ansicht, es sei 2021 zu spät für einen Friedensprozess gewesen. 2001, als die USA und ihre afghanischen Verbündeten die Taliban mit militärischer Gewalt vertrieben hatten, habe es durchaus die Möglichkeit gegeben, Frieden zu erreichen. Der damalige afghanische Präsident Hamid Karsai habe eine Amnestie und eine Machtbeteiligung der Taliban vorgeschlagen, was die USA jedoch abgelehnt hätten.
Eine weitere Chance hätte es dem Experten zufolge in den Jahren 2010 und 2011 gegeben, als die Taliban militärisch am schwächsten gewesen seien. 2021 habe die US-Administration unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump aber allein das Ziel verfolgt, die US-Truppen um jeden Preis aus Afghanistan abzuziehen. Die Taliban hätten den Abzug nur abwarten müssen. "Das waren Scheinverhandlungen", befand der Zeuge.
Die Umstände des Truppenabzugs erforscht seit einem Jahr ein Untersuchungsausschuss. Dabei rückt die zurückhaltende Rolle des Kanzleramts immer mehr in den Fokus.
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Der ehemalige Leiter des Referats Afghanistan und Pakistan im Auswärtigen Amt, der die Gespräche in Doha ebenfalls aktiv begleitet hat, berichtete, es habe 2019, direkt nach dem von Deutschland begleiteten innerafghanischen Friedensdialog, ein Zeitfenster gegeben, in dem die Taliban an Friedensgesprächen interessiert gewesen seien. Sie hätten aber versucht, "mehr Zugeständnisse aus den Amerikanern und der afghanischen Regierung herauszupressen". 2021 sei es für neue Verhandlungen aber zu spät gewesen, urteilte auch er.
Immer bedingungslosere Verhandlungen
Die Verhandlungen seien zunehmend bedingungsloser geführt worden, außerdem habe der damalige afghanische Präsident Aschraf Ghani eine Bunkermentalität an den Tag gelegt und bis wenige Tage vor dem Zusammenbruch nicht geglaubt, dass die US-Truppen das Land verlassen würden. Den Gesprächen in Doha habe er stets skeptisch gegenüber gestanden. Als Hauptproblem identifizierte der Diplomat jedoch den Umstand, dass im Doha-Abkommen keine Bedingungen für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt wurden.
Kommunikationsprobleme mit den USA hätten in den Monaten des Abzugs außerdem auch in Deutschland zu Fehlentscheidungen geführt. Denn die US-Administration habe die Bundesregierung nicht direkt über den Plan, ihre Truppen frühzeitig aus Afghanistan abzuziehen, informiert. Wäre das der Fall gewesen, hätte die Bundesregierung die Entscheidung zur Evakuierung der Botschaft in Kabul sicherlich zwei bis drei Tage früher getroffen, vermutete der Zeuge.