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Foto: picture alliance/Michael Kappeler/dpa
Der Anlauf ging schief: Spitzenpolitiker von FDP und Grünen im Oktober 2017 bei einem Treffen in der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin vor den später gescheiterten Sondierungen über eine "Jamaika"-Koalition.

Historie der Regierungsbildungen : Viel Zeit zuletzt

Nie dauerten die Regierungsbildungen länger als in der Ära Merkel. Dreimal wurden neue Höchstwerte erzielt.

04.10.2021
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Die erste Frau im wichtigsten Amt der Republik; die erste Amtsinhaberin, die es aus freien Stücken wieder verlässt: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in ihrer Amtszeit so manche Gipfelmarke gesetzt. Eine neue winkt ihr am 17. Dezember: Steht sie dann noch - geschäftsführend - an der Spitze der Bundesregierung, hätte sie den bisherigen Rekordhalter Helmut Kohl (CDU) überrundet, der vom 1. Oktober 1982 bis zum 26. Oktober 1998 mit insgesamt 5.869 Tagen mehr als 16 Jahre an der Macht war; damit könnte Merkel auf die längste Amtszeit aller Bundeskanzler zurückblicken.

Von alleine kann sie Kohl indes nicht einholen, denn aus dem Amt scheidet die Kanzlerin mit der Wahl ihres Nachfolgers im Bundestag aus - und wann die stattfindet, obliegt nicht Merkel, sondern den kommenden Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen. Die freilich könnten dauern, womit eine weitere Höchstmarke der Ära Merkel in den Blick rückt: die der längsten Regierungsbildung der Bundesrepublik.

Dieser Rekord stand schon am Anfang ihrer Kanzlerschaft im Jahr 2005, wurde 2013 noch deutlich übertroffen und vor vier Jahren auf eine neue Höchstmarke geschraubt, als nach der Bundestagswahl vom 24. September 2017 mehr als fünfeinhalb Monaten bis zu Merkels Wiederwahl ins Land gingen. Geschmiedet werden sollte zunächst eine schwarz-gelb-grüne "Jamaika"-Koalition - das einzige mehrheitsfähig scheinende Bündnis, das der Wahlausgang zuließ außer der rechnerisch ebenfalls möglichen Neuauflage der großen Koalition, der die SPD indes bereits am Wahlabend eine eindeutige Absage erteilt hatte.

171 Tage dauerten die Rekord-Koalitionsverhandlungen

Erst nach der Niedersachsen-Wahl Mitte Oktober begannen die Sondierungen, die schon wegen der Zahl der beteiligten Parteien, aber auch aufgrund weit auseinander liegender Positionen als schwierig galten. Dennoch kam es für viele überraschend, als nach einer Reihe von Gesprächsrunden FDP-Chef Christian Linder die Verhandlungen am 19. November spätabends für gescheitert erklärte.

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Nach Unterredungen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Spitzen der im Parlament vertretenen Parteien mussten noch SPD-Parteitage erst grünes Licht für Sondierungsgespräche mit der Union, danach für Koalitionsverhandlungen geben, die am 26. Januar 2018 begannen. Über ihr Ergebnis entschieden die Sozialdemokraten in einer Mitgliederbefragung, bevor der Koalitionsvertrag unterzeichnet wurde; am 14. März wählte der Bundestag Merkel zum vierten Mal zur Kanzlerin, danach wurde das neue Kabinett vereidigt - ganze 171 Tage nach der Bundestagswahl. Selbst wenn Merkel nun zum Jahreswechsel noch eine 17. Neujahrsansprache im Kanzleramt aufzeichnen sollte, müssten die kommenden Koalitionsverhandlungen sich dann noch mehr als zweieinhalb Monate hinziehen, .bis eine Regierungsbildung mehr Zeit in Anspruch nehmen würde als die Installation des "Merkel IV"-Kabinetts.

Dabei hatte sich die Regierungsbildung schon 2005 bei "Merkel I" über eine bis dahin unbekannte Dauer hingezogen. Spekulationen über ein Jamaika-Bündnis verstummten damals erst nach Sondierungen, und als Union und SPD nach einer Nachwahl in Dresden Koalitionsverhandlungen begannen, war schon rund ein Monat seit der Wahl vorbei. Insgesamt dauerte es 65 Tage, bis erstmals eine Frau zur Bundeskanzlerin gewählt und ihr Kabinett vereidigt wurde.

Dieser Rekord hielt nur acht Jahre; dann standen nach dem von 2009 bis 2013 währenden Intermezzo des "Merkel II"-Bündnisses mit der FDP erneut Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten an. Über den von Union und SPD ausgehandelten Koalitionsvertrag stimmten die Sozialdemokraten auch damals per Mitgliederentscheid ab. Am Ende nahm die Regierungsbildung 86 Tage in Anspruch: Erst am 17. Dezember 2013 wurde Merkel erneut zur Kanzlerin gewählt und ihr drittes Kabinett vereidigt, fast drei Monate nach der Bundestagswahl.

So lange konnte - und kann - der Bundestag selbst nicht warten, ebenso wie bei der Regierungsbildung 2018. Er tritt, so ist es im Grundgesetz festgelegt, "spätestens am 30. Tag nach der Wahl zusammen", also in diesem Jahr am 26. Oktober. Und damit nicht genug, legt ihm die Verfassung auch auf, eine Reihe von Ausschüssen zu bestellen: einen Petitionsausschuss, einen "Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union" sowie "einen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und einen Ausschuss für Verteidigung". 2013 wie 2017 stellte sich das Problem, dass sich in den meisten Bundestagsausschüssen der Ressortzuschnitt der Bundesministerien widerspiegelt - was ohne diesen Zuschnitt schwierig ist. Wer aber soll dann etwa Beschlussempfehlungen zu diversen Vorlagen erarbeiten, die normalerweise an die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden?

Hauptausschuss ersetzt vorübergehend Fachausschüsse

Vor acht Jahren setzte der Bundestag daher Ende November erstmals in seiner Geschichte einen "Hauptausschuss" ein; das Gremium war "Ausschuss im Sinne der Grundgesetzartikel 45, 45a und 45c", die die Bestellung der in der Verfassung vorgeschriebenen Ausschüsse vorgeben, sowie "Haushaltsausschuss im Sinne der entsprechenden gesetzlichen und geschäftsordnungsrechtlichen Vorgaben" und löste sich am 15. Januar 2014 mit der Konstituierung der ständigen Ausschüsse auf. Das Ganze wiederholte sich zu Beginn der folgenden Wahlperiode, wobei 2017 neben dem Hauptausschuss auch gleich der Petitions- sowie der Geschäftsordnungsausschuss eingesetzt wurden

Foto: DBT/Achim Melde

Ein Novum: Am 28. November 2013 setzt der Bundestag erstmalig einen Hauptausschuss ein. Bis zur Konstituierung des Parlaments ersetzt er die Fachausschüsse.

In den Jahrzehnten vor Merkel war die Regierungsbildung von 1961 mit 58 Tagen die längste in der Geschichte der Republik. Seinerzeit mussten sich Union und FDP nach vier Jahren absoluter CDU/CSU-Mehrheit wieder zu einer Regierung unter Kanzler Konrad Adenauer (CDU) zusammenfinden - von dessen Rücktritt während der neuen Wahlperiode die FDP die Koalition abhängig machte.

Mit jeweils 24 Tagen am schnellsten ging es 1969 und 1983. Das wird im März 1983 weniger überrascht haben als 14 Jahre vorher, hatten doch Union und FDP erst ein halbes Jahr zuvor, im September 1982, Koalitionsverhandlungen geführt, bevor sie Kanzler Helmut Schmidt (SPD) per konstruktivem Misstrauensvotum durch Kohl ablösten; nun war das neue Bündnis vom Wähler bestätigt und konnte Fahrt aufnehmen.

1969 dagegen ging es nach der ersten großen Koalition um die erstmalige Bildung eines sozialliberalen Bündnisses. Auf dieses Bündnis hatten sich die Vorsitzenden von SPD und FDP, Willy Brandt und Walter Scheel, noch in der Wahlnacht verständigt, obgleich die Union stärkste Kraft geworden war. Freilich hatte sich die Koalitionsbereitschaft von Sozial- und Freidemokraten schon bei der Bundespräsidentenwahl im März 1969 gezeigt, bei der der SPD-Kandidat Gustav Heinemann mit den Stimmen der Liberalen ins höchste Staatsamt gewählt wurde. Auch 1972 benötigten SPD und FDP mit 26 Tagen eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne bis zum Abschluss der Regierungsbildung.

1980 schafften es SPD und FDP, in 32 Tagen eine Regierung zu bilden

Ein Sonderfall war 1976, als der Wahltermin mehr als zwei Monate vor dem Ablauf der Legislaturperiode lag. Der neue Bundestag wurde am 3. Oktober gewählt, doch endete die vorangegangene Wahlperiode erst am 13. Dezember. Drei Tage später wurde das neue Kabinett vereidigt - 74 Tage nach der Wahl. Diese Frist ist indes nicht mit der anderer Legislaturperioden zu vergleichen.

Die Bildung der letzten sozialliberalen Bundesregierung im Jahr 1980 dauerte dann 32 Tage. Ebenso lang brauchten Union und FDP 1994 beim Start der letzten Regierung Kohl, nachdem sie 1987 und 1990 noch 46 beziehungsweise 47 Tage in Anspruch genommen hatten.

Mit jeweils 30 Tagen ging es 1998 und 2002 bei Rot-Grün deutlich schneller. SPD und Grüne blieben damit auch unter den Zeitspannen, die die Regierungsbildung in den Anfangsjahren der Republik erforderte: Waren es 1949 bei der ersten, von CDU, CSU, FDP und der Deutschen Partei (DP) getragenen Bundesregierung noch 37 Tage, dauerte es bei der Bundestagswahl 1953 schon 44 Tage - mit dem "Gesamtdeutschem Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" als fünftem Partner.

Dass die Dauer der Regierungsbildung nicht unbedingt von der Zahl der Koalitionäre abhängt, zeigte sich 1957, als die Union die absolute Mehrheit geholt hatte, aber dennoch die DP mit in die Regierung nahm. Auch jetzt dauerte es 44 Tage, bis das Kabinett Ende Oktober vereidigt war; die eigentlichen Koalitionsverhandlungen zogen sich mehr als einen Monat hin.

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Vier Jahre nach der erwähnten 58-Tage-Spanne von 1961 brauchten CDU, CSU und FDP 1965 wieder 37 Tage für die Regierungsbildung. Zu den schnelleren Regierungsbildungen zwischen Union und Liberalen zählt schließlich die von 2009 mit 31 Tagen. Damals ließ Merkel kurz nach der Wahl vom 27. September wissen, dass sie ihre neue Regierung spätestens am 9. November im Amt sehen wollte, wenn sie die Staats- und Regierungschefs anderer Länder zum 20. Jahrestag des Mauerfalls begrüßen würde. Das ließ sich machen: Am 28. Oktober wurde sie wiedergewählt und ihr neues Kabinett vereidigt.

Gemessen wird die Dauer der Regierungsbildungen übrigens vom Tag der Bundestagswahl bis zur Vereidigung des Kabinetts - nicht etwa bis zur Kanzlerwahl. Das liegt daran, dass der Regierungschef schon vor Ende der Koalitionsverhandlungen gewählt werden kann. Dazu kam es bislang dreimal, nämlich 1949, 1953 und 1957 bei Adenauers ersten Wahlen. Dabei wurde 1953 sogar noch ganze zehn Tage nach der Wahl des Regierungschefs weiterverhandelt.