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Bundesverfassungsgericht : Wenn die Opposition nach Karlsruhe geht

Die Opposition ist gut beraten, nicht allzu oft vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, meint Politikwissenschaftler Klaus Stüwe. Wichtig ist es trotzdem.

11.09.2023
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5 Min
Foto: picture alliance/dpa

Seltener Erfolg für die Opposition: Das Bundesverfassungsgericht erklärte Anfang 2023 die Anhebung der absoluten Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung für verfassungswidrig. Gegen das Gesetz hatten Grüne, FDP und Die Linke seinerzeit gemeinsam geklagt.

Herr Stüwe, Klagen oder mögliche Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Nachtragshaushalt 2021, das Wahlrecht, die Abstimmung über das Gebäudeenergiegesetz, die Ablehnung eines Untersuchungsausschusses, die Besetzung von Ausschussposten oder zu parlamentarischen Fragerechten. Täuscht der Eindruck, oder verschieben sich politische Auseinandersetzungen zunehmend nach Karlsruhe?

Klaus Stüwe: Dieser Eindruck täuscht. Seit der Gründung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1951 war es immer wieder der Fall, dass Oppositionsfraktionen versuchten, parlamentarische Niederlagen nachträglich in verfassungsgerichtliche Siege umzuwandeln, soweit sie eine Chance auf Erfolg sahen. Die aktuellen Klagen reihen sich ein in eine lange Geschichte oppositioneller Anträge.

Welche Möglichkeiten hat die parlamentarische Opposition, in Karlsruhe etwas zu bewegen?

Klaus Stüwe: Die parlamentarische Opposition hat im Wesentlichen zwei Motive, die sie mit Klagen in Karlsruhe verfolgen kann: Das erste Motiv ist sicherlich das anspruchsvollere, die nachträgliche Nichtigerklärung von Gesetzen durch die abstrakte Normenkontrolle. Das zweite Motiv besteht darin, Rechte im Rahmen einer Organklage geltend zu machen, sei es für das gesamte Parlament, eine Fraktion oder einzelne Abgeordnete. In diesen Verfahren, die häufiger vorkommen als abstrakte Normenkontrollen, konnte die Opposition in der Vergangenheit mehr Erfolge erzielen.

Worum geht es dabei beispielsweise?

Klaus Stüwe: Es geht vor allem um parlamentarische Informations- und Beteiligungsrechte, wie beispielsweise die Bereitstellung von Informationen zur Anzahl der im Ausland eingesetzten Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Ein FDP-Abgeordneter hatte dieses Verfahren angestrengt. Das Gericht legt auch großen Wert auf die Chancengleichheit der Parteien. Bundeskanzlerin Merkel erhielt zum Beispiel vom Gericht eine Rüge für ihre Äußerung zur Wahl von Thomas Kemmerich, bei der AfD-Stimmen im Thüringer Landtag eine Rolle spielten.

Foto: upd
Klaus Stüwe
hat den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne. Der Politikwissenschaftler forscht unter anderem zur Rolle von Klagen der Opposition vor dem Bundesverfassungsgericht.
Foto: upd

Ein weiteres Organstreitverfahren hat vor der parlamentarischen Sommerpause die Planungen der Koalition durchkreuzt. Die Richterinnen und Richter in Karlsruhe ordneten an, die geplante Abstimmung über das Gebäudeenergiegesetz von der Tagesordnung zu nehmen - ein tiefer Eingriff in die Autonomie des Verfassungsorgans Bundestag. Wie hat sich das Gericht historisch betrachtet zur Autonomie des Bundestages verhalten?

Klaus Stüwe: In der Regel hat das Bundesverfassungsgericht den Primat der Autonomie des Deutschen Bundestages in seinen eigenen Verfahrensangelegenheiten hochgehalten. Es handelt sich um eine schwierige Abwägungsentscheidung zwischen dem Rechtsschutzinteresse eines Abgeordneten oder einer Fraktion auf der einen Seite und den souveränen Entscheidungen des Parlaments - genauer gesagt, der Mehrheit des Parlaments - hinsichtlich des Verfahrens auf der anderen Seite. Dass das Gericht, wie im Fall des von Thomas Heilmann angestrengten Organklageverfahrens, in einen laufenden Prozess eingreift, geschieht eher selten.


„Übrigens können selbst erfolglose Verfahren durchaus von großer Bedeutung sein.“
Politikwissenschaftler Klaus Stüwe

Wie erfolgreich ist die Opposition mit der abstrakten Normenkontrolle?

Klaus Stüwe: Es gab einige erfolgreiche Verfahren, die von der parlamentarischen Opposition initiiert wurden, jedoch sind diese eher selten. Grundsätzlich ist es so, dass allein schon die Existenz einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit dazu führt, dass die Regierung und die Parlamentsmehrheit vorsichtiger mit verfassungsrechtlichen Fragen umgehen. Dies unterscheidet Deutschland deutlich von Ländern wie Großbritannien, wo eine solche Institution nicht existiert. Das demokratische Mehrheitsprinzip wird hierzulande viel stärker vom Rechtsstaatsprinzip flankiert. Das hat Folgen für die Opposition: Ihr fällt es in den meisten Fällen ziemlich schwer, eine offensichtliche Verletzung der Verfassung durch die Regierungsmehrheit nachzuweisen. Dass dies gelegentlich dennoch der Fall ist, zeigt, dass auch die Regierungsmehrheit Fehler machen kann. Übrigens können selbst erfolglose Verfahren durchaus von großer Bedeutung sein.

Inwiefern?

Klaus Stüwe: Auch bei solchen Urteilen oder Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden dennoch verfassungsrechtliche Zweifelsfragen geklärt. Zudem können bestimmte Auslegungsprinzipien für ein Gesetz festgelegt werden, die die Handlungsspielräume des Gesetzgebers oder der Regierung einschränken.

Wenn die Erfolgsaussichten gering und die Klagen relativ anspruchsvoll sind, dann überlegt sich eine Oppositionsfraktion sicherlich genau, wann sie dieses Mittel wählt, oder?

Klaus Stüwe: So ist es. Die Opposition ist gut beraten, nicht allzu oft vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, denn damit steigt zugleich das Risiko verfassungsgerichtlicher Niederlagen. Wenn die Opposition ständig Niederlagen vor dem Bundesverfassungsgericht einstecken muss, dann könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass die Opposition viele Fehler macht. Darüber hinaus könnte man ihr vorwerfen, dass sie das Verfassungsgericht missbraucht und permanent versucht, politische Auseinandersetzungen auf die verfassungsrechtliche Ebene zu verlagern. Daher setzt die Opposition dieses Mittel aus guten Gründen eher vorsichtig und mit Bedacht ein. Dies gilt für alle Oppositionsfraktionen in der Vergangenheit gleichermaßen

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Besteht denn aus Ihrer Sicht eine Gefahr der Instrumentalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit?

Klaus Stüwe: In einer parlamentarischen Demokratie liegt das politische Interesse, die verfassungsrechtlichen Grenzen der regierenden Mehrheit zu kontrollieren, vornehmlich bei der Opposition. Kritik und Kontrolle gehören nun einmal zu ihren wesentlichen Funktionen, und das umfasst die politische Dimension ebenso wie die verfassungsrechtliche. Die Opposition ist also gewissermaßen eine natürliche Antragstellerin vor dem Bundesverfassungsgericht. Dies stellt keine Instrumentalisierung dar, sondern eine legitime Funktionalisierung. Um Kontrolle ausüben zu können, nutzt die Opposition die Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen, dazu gehören beispielsweise die Öffentlichkeit und, wenn die Mehrheitsverhältnisse es hergeben, der Bundesrat sowie eben auch das Bundesverfassungsgericht. Es ist von Vorteil für die Sicherung der Verfassungsordnung, dass es Akteure gibt, die als Minderheit ein politisches Interesse daran haben, auch die verfassungsrechtlichen Grenzen der regierenden Mehrheit zu kontrollieren. Das hat das Bundesverfassungsgericht selbst bereits in seinen frühesten Entscheidungen so gesehen.

Für eine abstrakte Normenkontrolle ist die Unterstützung von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages erforderlich. Das ist für kleinere Fraktionen allein schwer zu erreichen. Welche Strategien nutzen diese Fraktionen?

Klaus Stüwe: Theoretisch wäre es möglich, dass eine 'befreundete' Landesregierung einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht einreicht. Früher, als das Quorum sogar bei einem Drittel des Bundestags lag, war das tatsächlich immer wieder mal der Fall. Heutzutage sind die Koalitionskonstellationen auf Landesebene jedoch oft so, dass mindestens ein Partner beteiligt ist, der auch auf Bundesebene regiert. Damit fällt diese Option inzwischen faktisch weg. Eine Organklage aus der Mitte des Bundestags ist an keine Mindestzahl gebunden und wäre damit eine weitere Option, aber diese Verfahrensart dient der Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen und nicht der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Eine dritte Option wäre, dass sich Oppositionsfraktionen zusammenschließen und einen gemeinsamen Antrag stellen. Aber dabei stellt sich die Frage, ob eine solche Kooperation tatsächlich gelingt und ideologische Differenzen überwunden werden können. Wenn angesichts dieser Entwicklungen ein Interesse daran besteht, Anträge für abstrakte Normenkontrollverfahren weiterhin aus der Mitte des Bundestags zu ermöglichen, besteht möglicherweise Handlungsbedarf für den Gesetzgeber.

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Was meinen Sie damit?

Klaus Stüwe: Angesichts der Veränderungen in der deutschen Parteienlandschaft ist davon auszugehen, dass die Fraktionen im Deutschen Bundestag in Zukunft eher klein bis mittelgroß sein werden. Eine einzelne Oppositionsfraktion wird daher allein kaum mehr in der Lage sein, eine abstrakte Normenkontrolle einzuleiten. Einige plädieren deshalb dafür, die parlamentarischen Minderheitsrechte zu erweitern, insbesondere das erforderliche Quorum für die Einleitung einer abstrakten Normenkontrolle erneut zu senken oder gar abzuschaffen und der Opposition als solcher ein Antragsrecht zu gewähren. Kann bei einer solchen Stärkung der Minderheitsrechte die Arbeitsfähigkeit des Parlaments noch gewährleistet werden? Und macht es Sinn, die Antragsberechtigung in der abstrakten Normenkontrolle immer wieder den aktuell gegebenen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen anzupassen? Das sind schwierige Abwägungen. Der Gesetzgeber wird dennoch überlegen müssen, wie diese Verfahrensart nicht zu einem stumpfen Schwert wird.