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Gesundheitssystem im Wandel : Kindermedizin: Warum Kinder oft durch vorgegebene Raster fallen

Kinderärzte beklagen eine immer weiter steigende Arbeitsbelastung. Welche Schritte werden unternommen, um die Gesundheitsversorgung für Kinder zu verbessern?

24.07.2023
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6 Min

Kinder haben in der Gesundheitspolitik keine allzu große Lobby, sie wachsen im besten Fall behütet auf, durchlaufen regelmäßig die üblichen Vorsorgeuntersuchungen und sind meist ziemlich gesund. Wenn sie nicht gesund sind, müssen sie und ihre Eltern mit dem zurechtkommen, was das Gesundheitssystem in Deutschland zu bieten hat. Auf den ersten Blick hat das Gesundheitssystem einiges zu bieten für kranke Kinder: spezialisierte Ärzte und Therapeuten, Pflegekräfte und moderne Krankenhäuser, eine differenzierte Apparatemedizin, ein breites Spektrum an Pharmazieprodukten, medizinische Hilfsmittel, Reha-Einrichtungen und Mutter-Kind-Kuren, finanziert von der Gesetzlichen oder Privaten Krankenversicherung (GKV/PKV) oder der Pflegeversicherung.

Foto: picture alliance/Zoonar/Matej Kastelic

Die medizinische Versorgung insbesondere kleiner Kinder ist fachlich komplex, aufwendig und teuer. Jetzt soll mehr Geld ins System.

Auf den zweiten Blick fallen Kinder allerdings öfter durch die vorgegebenen Raster, weil zum einen Erwachsene (Männer) die medizinischen Therapiestandards prägen, was insbesondere bei der Verordnung von Medikamenten problematisch sein kann, und die aufwendige Versorgung kranker Kinder in der Vergütung von Ärzten und Krankenhäusern lange nicht angemessen berücksichtigt wurde. Die Folge: Kinderstationen in Krankenhäusern rechnen sich nicht, Kinderärzte waren gezwungen, ihre Budgets zu kippen.

Schwenk zu einer bedarfsgerechten Versorgung

"Wir haben die Ökonomisierung übertrieben", räumte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zu Jahresbeginn 2023 ein, während Eltern und Kinder versuchten, sich einer ungewöhnlich heftigen Winter-Infektionswelle zu erwehren, die neben den ausklingenden Corona-Fällen und der üblichen Grippe-Saison auch viele Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) mit sich brachte. Als auch noch gewöhnliche Arzneimittel für Kinder knapp wurden, Fiebersäfte und Antibiotika, Zäpfchen und Elektrolytelösungen, waren Kinderärzte überrascht und Eltern schockiert.

Seither hat die Bundesregierung einen Schwenk vollzogen: weg von ökonomischen Vorgaben in der Gesundheitspolitik, hin zu einer bedarfsgerechten Versorgung. Von den inzwischen beschlossenen Neuregelungen profitieren zuvorderst Kinder. So bekommen Krankenhäuser mit pädiatrischen und Geburtshilfestationen in den Jahren 2023 und 2024 zusätzliche Mittel in Millionenhöhe.

Neu eingeführt wurde eine tagesstationäre Behandlung ohne Übernachtung im Krankenhaus, was den Eltern kleiner Kinder entgegenkommt. Erwogen wird eine teilweise Abkehr von den Fallpauschalen (DRG) in Krankenhäusern, die zumindest in der Pädiatrie als nicht sinnvoll eingeschätzt werden. Zudem werden Arzneimittel für Kinder künftig besser bezahlt, Engpässe sollen so vermieden werden.

Kinderärzte bekommen seit April 2023 Honorare leistungsgerecht ausgezahlt

Auch bei den niedergelassenen Kinderärzten hat Lauterbach nach etlichen Hilferufen eine Kehrtwende vollzogen. Kinder- und Jugendärzte wurden zum 1. April 2023 aus dem Honorarbudget genommen, ebenso ausgewählte Leistungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ärzte bekommen nun ihre Honorare leistungsgerecht ausgezahlt und müssen nicht umsonst arbeiten oder die Arbeit einstellen, wenn das Budget erschöpft ist. Lauterbach verspricht sich davon ein Signal an junge Ärzte, sich für die Pädiatrie zu entscheiden, am besten in strukturschwachen Regionen.

Dass diese Initiative ihre Berechtigung hat, macht die Bundesärztekammer (BÄK) anhand von Zahlen deutlich. Zwar steigt seit Jahren die Anzahl der Ärzte in Deutschland leicht an, nach Ansicht der BÄK reicht das aber nicht, um den künftigen Bedarf zu decken. So wollen junge Ärzte oft nur Teilzeit arbeiten, Überstunden vermeiden und scheuen vor den finanziellen Risiken einer eigenen Praxis zurück. Ob Eltern mit dem Versorgungsangebot zufrieden sind, hängt oft von der Region ab, in der sie leben. In ländlichen Gebieten sind Kinderärzte rar und geraten schnell an ihre Kapazitätsgrenze, zumal es auch an Arzthelferinnen mangelt. Landärzte werden gesucht, junge Mediziner zieht es aber eher in die Stadt.


„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“

Derweil werden in den nächsten Jahren viele der rund 421.000 berufstätigen Ärzte in den Ruhestand gehen. So sind 28 Prozent der Fachärzte bereits 60 Jahre alt oder älter, neun Prozent sind älter als 65, wie aus der Ärztestatistik der BÄK von Ende 2022 hervorgeht. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) geht davon aus, dass rund ein Viertel der Kinderärzte bis 2025 aus dem Beruf ausscheiden wird.

Anhaltender psychosomatischer Stress in der Pandemie

Nach einer Umfrage des Deutschen Kinderhilfswerks von 2018 waren rund ein Drittel der befragten Eltern der Ansicht, dass es in der Nähe ihres Wohnortes keine ausreichende Versorgung mit Kinder- und Jugendärzten gibt. Guckt man sich in einschlägigen Internetforen um, werden Kinderärzte mit freien Kapazitäten in ganz unterschiedlichen Regionen des Landes oft als seltenes Glück gepriesen. Kinderärzte beklagen, dass in den vergangenen Jahren die ohnehin hohe Arbeitsbelastung nochmals gestiegen ist. Das hat etwas mit den zahlreichen Vorsorgeterminen (U) für Kinder und Jugendliche zu tun sowie mit der Tendenz vieler Eltern, auch bei harmlosen Infekten oder leichtem Fieber sofort eine ärztliche Beratung in Anspruch zu nehmen.

Lauterbach verspricht, künftig solle die medizinische Behandlung der Kinder im Vordergrund stehen. Dies sei man den Kindern schuldig, weil sie "die Leidtragenden der Pandemie" gewesen seien. Tatsächlich ging in der Pandemie nach Erkenntnissen der Virologen von Kindern eine vergleichsweise geringe Gefahr für die Allgemeinheit aus, von den Restriktionen waren sie aber ebenso betroffen wie Erwachsene. Viele Kinder und Jugendliche haben im Lockdown problematische physische und psychische Auffälligkeiten entwickelt, von der Gewichtszunahme über Spielsucht bis hin zu Angststörungen und Depressionen. Psychiater berichten von vermehrten Therapieanfragen, die Wartezeiten sind oft lang. Eine interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) hat in ihrem Abschlussbericht unlängst die gesundheitlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie benannt und kommt zu dem Schluss, es müsse verhindert werden, "dass sich psychische und körperliche Belastungen und Erkrankungen manifestieren und damit die Bildungs- und Teilhabechancen eines Teils der jungen Generation dauerhaft beeinträchtigt werden". In dem Bericht werden Studien zitiert, wonach in der Pandemie eine "erhöhte psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen" festzustellen war und es deutliche Hinweise gebe auf "anhaltenden psychosomatischen Stress". Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2021 psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen von älteren Kindern und Jugendlichen. Der häufigste Behandlungsgrund waren Depressionen.

Mängel bei nicht ausreichend differenzierten Diagnostik und Therapie

Die Psychologin und Spezialistin für Kinder- und Jugendgesundheit an der Universität Hamburg-Eppendorf, Ulrike Ravens-Sieberer, die an der IMA mitgewirkt hat, kritisierte in der "Zeit", Schulen und Kitas hätten in der Regel keinen Kontakt zum Gesundheitssektor, also etwa zu Krankenhäusern oder Psychotherapiepraxen. Das führe immer wieder dazu, dass psychische Krisen von Kindern zu spät beachtet würden, weil sich niemand zuständig fühle. Lehrer müssten psychologisch weitergebildet werden, Schulen bräuchten einen schulpsychologischen Dienst.

Das Gesundheitssystem leidet aber nicht nur an einem Mangel in bestimmten Sektoren, die Kinder betreffen, sondern auch an einer nicht ausreichend differenzierten Diagnostik und Therapie. "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen", lautet eine Standardweisheit in der Medizin. Gleichwohl werden nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) viele Medikamente, die bei Kindern eingesetzt werden, nicht ausreichend an Kindern geprüft. Die wirksame und sichere Dosierung sei oft nicht bekannt. Kinder werden dennoch mit den Mitteln behandelt (Off-Label-Use). Ohne Off-Label-Use würden nach Angaben der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Kinder nicht nach dem Stand der Wissenschaft versorgt. Seit 2007 ist nach Angaben des BfArM die EU-"Kinderverordnung" in Kraft mit dem Ziel, die Arzneimittelsicherheit zu verbessern. Neben der Dosierung muss auch die Darreichungsform für Kinder jeweils geeignet sein.

Kinderärzte-Verband kritisiert Einführung der generalistischen Pflegeausbildung

Als im Winter 2022/23 Kinderarztpraxen und Kinderklinken am Limit arbeiteten, wies der BVKJ die "Entlastungsvorschläge" Lauterbachs mit Hinweis auf die Besonderheiten bei der Versorgung von Kindern scharf zurück. Es sei "absurd und gefährlich", Pflegekräfte ohne Erfahrung auf Kinderstationen abzukommandieren, die sich dann im Akkord um kranke Frühgeborene, Säuglinge, Kleinkinder und Jugendliche kümmern müssten.

Der Verband der Kinderärzte kritisierte die Einführung der sogenannten generalistischen Pflegeausbildung. Damit werde die spezialisierte Kinderkrankenpflege systematisch ausgehöhlt. Von Notfallmedizinern ist bekannt, dass sie von der Angst begleitet werden, in einem Kindernotfall helfen zu müssen, das könnte sie schnell überfordern.

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