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20. Bundestag konstituiert : "Jetzt aber wirklich!"

Die neu gewählte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) mahnt in ihrer Antrittsrede eine Reform des Wahlrechts, "die den Namen verdient", an.

01.11.2021
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6 Min

Es ist eng an diesem 26. Oktober im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes. Nur die Regierungsbank ist verwaist: Heute endet die reguläre Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihres Kabinetts. Von der Zuschauertribüne aus verfolgt sie neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der ihr und ihren Ministern im Verlauf des Tages die Entlassungsurkunden übergeben und sie zugleich auffordern wird, die Amtsgeschäfte bis zur Wahl eines neuen Kanzlers weiterzuführen, das Geschehen. In den Reihen der sechs Bundestagsfraktionen drängen sich die nahezu vollständig versammelten 736 Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages, die zur konstituierenden Sitzung erstmals zusammengekommen sind.

Foto: DBT/Werner Schüring

Volle Sitzreihen: In der vergangenen Woche konstituierte sich der neue Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten.

Im Idealfall sollen es eigentlich nur 598 Parlamentarier sein, die im Halbrund des Plenarsaals sitzen. Doch das personalisierte Verhältniswahlrecht mit Erst- und Zweitstimme, Überhangs- und Ausgleichsmandaten hat den Bundestag ein weiteres Mal anwachsen lassen. Der Ausgang der Bundestagswahl hat zwar verhindert, dass sich das Parlament wie von Wahlrechtsexperten befürchtet auf mehr als 900 Parlamentarier vergrößerte, aber 27 Abgeordnetenmandate sind gegenüber der vergangenen Legislaturperiode dennoch hinzugekommen.

Bärbel Bas (SPD) mit 576 gegen 90 Stimmen bei 58 Enthaltungen gewählt

So verwundert es dann wohl auch niemand, dass Wolfgang Schäuble (CDU) das Thema Wahlrechtsreform gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede als Alterspräsident anspricht. "Eine Wahlrechtsreform, die ihren Namen verdient", dulde "ersichtlich keinen Aufschub", führt Schäuble angesichts des vollen Hohen Hauses und in Anspielung auf die in der vergangenen Legislatur verabschiedete Mini-Reform aus, die zudem erst mit der nächsten Bundestagswahl 2026 vollumfänglich greifen wird. Schäuble macht keinen Hehl daraus, dass es für ihn eine "persönlich bittere Erfahrung" gewesen sei, dass sich der Bundestag unter seiner Präsidentschaft nicht auf eine große Reform einigen konnte. Und er warnt: Sie sei "keinen Deut leichter geworden."


Bärbel Bas spricht im Plenum
Foto: DBT / Werner Schüring
„Ein vielfältiges, junges, frisch gewähltes Parlament kann leichter Brücken bauen. Es kann Vorurteile, Abwehrreaktionen und Misstrauen überwinden helfen.“
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD)

Bärbel Bas (SPD), die der Bundestag wenig später mit 576 gegen 90 Stimmen bei 58 Enthaltungen zur neuen Bundestagspräsidentin wählt, weiß die Warnung ihres Amtsvorgängers ernst zu nehmen. In ihrer Antrittsrede fordert sie die Fraktionen "schon jetzt" auf, "das Wahlrecht auf die Tagesordnung zu setzen". Ebenso wie Schäuble wünscht sie sich eine Reform, "die den Namen verdient". In aufmunterndem Tonfall fügt sie an: "In Richtung der Fraktionen sage ich mal so locker: Jetzt aber wirklich!"

Entscheidung über Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht steht noch aus

Die Zeit für eine Wahlrechtsreform drängt auch deshalb, weil die Fraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen noch im Februar dieses Jahres eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatten. Der Eilantrag war von den Richtern in Karlsruhe zwar abgelehnt worden, aber die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus.


„Abgeordnete - jeder Abgeordnete! - sind ,Vertreter des ganzen Volkes'.“
Wolfgang Schäuble, ehemaliger Bundestagspräsident

Abgesehen von den zu erwartenden Konflikten um die Wahlrechtsreform, blickt die neue Hausherrin jedoch durchaus zufrieden auf den neuen Bundestag. Der ist nämlich nicht nur größer, sondern auch weiblicher, jünger und insgesamt vielfältiger geworden. Das Durchschnittsalter der Parlamentarier liegt mit 47 Jahren so niedrig wie noch nie seit den Wahlen von 1990, der Frauenanteil ist gegenüber der vergangenen Legislatur um vier auf 34,7 Prozent gestiegen und der Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund von 8,2 auf 11,3 Prozent. Die Zusammensetzung des neuen Bundestages zeige, "dass seine Mitglieder in ganz verschiedenen Teilen der Gesellschaft verwurzelt sind", betont Bas. "Sie bringen unterschiedliche Berufserfahrungen und Herkunftsgeschichten mit. Ihre Lebensläufe und Lebenswege werden unsere Debatten bereichern. Die Vielfalt ist eine Chance für uns alle - in diesem Haus, aber auch außerhalb." Außerhalb des Bundestages müssten die Parlamentarier verstärkt auf jene Bürger zugehen, "die sich von der Politik seit Langem nicht mehr angesprochen fühlen, Menschen, denen ,die Politik' fremd geworden ist", mahnt die Bundestagspräsidentin. "Ein vielfältiges, junges, frisch gewähltes Parlament kann leichter Brücken bauen. Es kann Vorurteile, Abwehrreaktionen und Misstrauen überwinden helfen", ist sich Bas sicher.

Auch Wolfgang Schäuble ist der Ansicht, dass "sich natürlich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll". Zugleich warnt der dienstälteste Parlamentarier - er zog 1972 als 30-Jähriger erstmals in den Bundestag ein - vor einer Überstrapazierung des Vielfalts-Gedanken: Der Bundestag werde "nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung" sein. Nach seiner Ansicht muss er das auch nicht: "Jeder Einzelne von uns bildet nicht einfach einen Teil des Volkes ab. Artikel 38 Grundgesetz ist eindeutig: Abgeordnete - jeder Abgeordnete! - sind ,Vertreter des ganzen Volkes'." Es sei ein "irriges" Verständnis, "dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten". Für seine kritische Einlassung zur aktuell und breit geführten Debatte über die sogenannte Identitätspolitik erntet Schäuble allerdings nur Applaus aus den Reihen der Union, der FDP und der AfD. Bei Sozialdemokraten, Grünen und Linken rührt sich keine Hand.

Vorbildfunktion: Mehr "Gelassenheit", Kollegialität und Fairness in Debatten

Völlig einig hingegen sind sich Schäuble und Bas in der Frage, wie Debatten im Bundestag geführt werden sollten: Kontrovers, hart in der Sache, aber fair und respektvoll. Schäuble fordert die Abgeordneten zu einer Gelassenheit auf, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben könne. "Seine Integrität wahrt, wer weiterhin zuhören kann und seinen inneren Kompass nicht verliert, wer sich in Kollegialität und Fairness übt, wer sich über die Verhaltensregeln, die wir uns geben, hinaus den Sinn dafür bewahrt, was anständig ist und - womöglich noch stärker - was unanständig ist", sagt Schäuble.

Bundestagspräsidentin Bas erinnert die Abgeordneten an ihre Vorbildfunktion: "Jede und jeder Einzelne von uns steht für ,die Politik' und damit in der Pflicht, den Deutschen Bundestag würdig zu vertreten." Sie erwarte einen respektvollen Umgang innerhalb des Bundestages, Respekt gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch deren Respekt gegenüber den Volksvertretern. "Hass und Hetze sind keine Meinung", betont Bas und verspricht: "Als Präsidentin werde ich dieses Parlament vor Angriffen schützen und die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen."

Rauherer Ton im Bundestagsplenum

Die präsidialen Ermahnungen kommen nicht von ungefähr. Der Ton ist seit dem Einzug der AfD deutlich rauer und giftiger geworden im Bundestag. Nicht zuletzt der Wunsch der FDP-Fraktion, zukünftig nicht mehr neben der AfD sitzen zu wollen, zeugt davon. Wiederholt haben weibliche Abgeordnete über sexistischen Sprüche aus den Reihen der AfD geklagt. Doch schon die konstituierende Sitzung offenbart, dass der Wunsch ein Wunsch bleiben könnte. Bereits zu Beginn der Sitzung löst der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, einen ersten Eklat aus, als er im Namen seiner Fraktion fordert, die Sitzung nicht durch den dienstältesten, sondern den ältesten Abgeordneten eröffnen zu lassen: "In fast zwei Jahrhunderten hat nur ein Parlament es gewagt, mit dieser Tradition zu brechen. Das war 1933 nach der Machtergreifung mit einem Präsidenten Hermann Göring. Soll das Ihr Vorbild sein?"

Wenig später kann es sich Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, in der Debatte um weitere Anträge der AfD zur Geschäftsordnung des Bundestages nicht verkneifen, die AfD "in der Tradition der Nazis" zu verorten. Daraufhin sieht sich Schäuble veranlasst, Korte daran zu erinnern, dass "wir Vorwürfe, dass Fraktionen oder Kolleginnen und Kollegen in der Tradition der Nationalsozialisten stehen, als unparlamentarisch in diesem Hause nicht hören wollen".

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Am Ende scheitert die AfD sowohl mit ihrem Antrag zum Alterspräsidenten, als auch mit den Anträgen auf Verzicht von Gendersternchen in Drucksachen des Bundestages und zum Vorschlagsrecht eines Kandidaten im zweiten und dritten Wahlgang der Kanzlerwahl nach Artikel 63 Grundgesetz sowie einem Antragsrecht auf ein konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 für jede Fraktion am Votum aller anderen Fraktionen. Und sie scheitert mit 118 Ja- gegen 553 Nein-Stimmen mit ihrem Kandidaten Michael Kaufmann für den Posten einer der Vizepräsidenten.

Aydan Özoguz (SPD) hingen wird mit 544 Ja-Stimmen, Yvonne Magwas (CDU) mit 600, Claudia Roth (Grüne) mit 565, Wolfgang Kubicki (FDP) mit 564 und Petra Pau (Linke) mit 484 Ja-Stimmen zu Stellvertretern von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gewählt.

Nach rund fünfeinhalb Stunden endet die konstituierende Sitzung schließlich gegen 16:30. Die Abgeordneten erheben sich von ihren Sitzen und lauschen der instrumental vorgetragenen Nationalhymne: "Einigkeit und Recht und Freiheit" muss sich jeder dazudenken.