Ampelkoalition : Schwierig, aber nicht unmöglich
Lagerübergreifende Dreierbündnisse waren in den Ländern bislang stabiler als erwartet. Oft haben sie koalitionspolitisch die Funktion eines Testlabors für den Bund.
Niemand hätte vor wenigen Monaten vorausgesehen, dass unter allen denkbaren Zweier- und Dreikonstellationen nach der Bundestagswahl ausgerechnet die Ampel das Rennen macht. Durch das Erstarken der Grünen und den mehr als zweistelligen Vorsprung der Unionsparteien vor der SPD galt ein von der CDU/CSU angeführtes schwarz-grünes Zweierbündnis seit 2018 als mit Abstand wahrscheinlichster Wahlausgang. Schon 2013 hatten beide Seiten mit einem Zusammengehen geliebäugelt, doch fehlte letztlich den Grünen der Mut, das Bündnis zu wagen.
"Respekt, Vertrauen und gegenseitige Rücksichtnahme": Robert Habeck und Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sowie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner wollen eine Ampel-Koalition schmieden.
2017 reichte es zu einer Mehrheit dann nur noch zusammen mit der FDP. Diese brachte den Versuch, ein lagerübergreifendes Dreierbündnis zu schmieden, prompt zum Scheitern, was sie im Nachhinein sicher bereute. Umso mehr setzten die Liberalen darauf, die Scharte auszuwetzen, falls Union und Grüne 2021 erneut keine eigene Mehrheit erreichten. Tatsächlich sollte sich dieser Teil der Prognose bewahrheiten. Dass die FDP jedoch nicht mit ihrem Wunschpartner Union an der Seite, sondern mit der SPD regieren würde, lag bis Mitte Juli noch außerhalb des Vorstellbaren.
Abkehr von der "Ausschließeritis"
Die Tür zu einer Ampel hatten sich die Liberalen aber - wie schon 2017 - wohlweislich offen gehalten, mochte Parteichef Christian Lindner auch noch so oft betonen, ihm fehle für ein solches Bündnis die Phantasie. Im Gegenzug weigerten sich SPD und Grüne trotzig, ein Zusammengehen mit der Linken auszuschließen, was die Union in der letzten Phase des Wahlkampfs für sich auszuschlachten versuchte. Allein Koalitionen oder sonstige Formen der Zusammenarbeit mit der AfD bleiben für alle Parteien ein Tabu.
Die Abkehr von der "Ausschließeritis", die die Koalitionsbildung bis 2013 prägte, ist aus Sicht der Parteien rational. Denn nachdem sich durch das Hinzutreten der PDS (seit 1990) und späteren Linken (seit 2005) sowie der AfD (seit 2013) eine Sechsparteienstruktur etabliert hat, rücken Mehrheiten für die klassischen "lagerinternen" schwarz-gelben und rot-grünen Bündnisse in weite Ferne. Auch in den Ländern stellen sie heute eher die Ausnahme als die Regel dar. So regieren in den drei Stadtstaaten sowie Thüringen und demnächst Mecklenburg-Vorpommern linke, in Nordrhein-Westfalen und Bayern "bürgerliche" Koalitionen. In den übrigen neun Ländern dominieren lagerübergreifende Koalitionen.
Die zweite Variante der Großen Koalition
In Westdeutschland hat sich dabei neben der klassischen eine zweite Variante der Großen Koalition von Union und Grünen herausgebildet, nachdem die Grünen in Hessen und Baden-Württemberg zur zweitstärksten, beziehungsweise stärksten, Kraft aufgestiegen sind. In Ostdeutschland scheinen wiederum die Kenia- (Union, SPD und Grüne) und Deutschland-Bündnisse (Union, SPD und FDP) zu neuen Standardformationen zu avancieren. Weil CDU und SPD hier auch zusammen nicht mehr in der Lage sind, eine regierungsfähige Mehrheit hinter sich zu bringen, müssen die Grünen oder die FDP als Partner zusätzlich mit ins Boot.
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Die Länder haben koalitionspolitisch die Funktion eines "Testlabors" für die Bundesebene. In den 1960er Jahren war das bereits bei der sozialliberalen Koalition der Fall, in den 1980er Jahren bei Rot-Grün. 2008 und 2012 wurden in Hamburg und im Saarland die ersten schwarz-grünen beziehungsweise Jamaika-Koalitionen gebildet, die aber beide vorzeitig scheiterten. Ihre erfolgreicheren Nachfolger in Hessen (ab 2013) und in Schleswig-Holstein (ab 2017) nahmen die 2017 geplatzten Jamaika-Verhandlungen im Bund vorweg.
In Rheinland-Pfalz regiert die Ampel seit 2016
Mit dem Sprung über den Lagergraben schwerer als die Grünen tat sich lange Zeit die FDP. Nach ihrer Rückkehr an die Seite der Union im Zuge der Bonner Wende 1982 war von 1991 bis 2006 nur in Rheinland-Pfalz bereit, das sozialliberale Bündnis wiederaufleben zu lassen. Die Anfang der 1990er Jahre gebildeten Ampelkoalitionen in Bremen und Brandenburg zerbrachen vor Ablauf der Wahlperiode. Sie fanden erst ab 2016 in Rheinland-Pfalz einen erfolgreichen Nachfolger. Bei der Landtagswahl im März 2021 konnten die drei Parteien ihre Mehrheit überzeugend verteidigen und die Zusammenarbeit fortsetzen. Grüne und FDP schnitten dabei jedoch mit 9,3 beziehungsweise 5,5 Prozent im Verhältnis zur SPD (35,7 Prozent) deutlich schwächer ab als bei der Bundestagswahl.
Blickt man auf die Praxis der lagerübergreifenden Koalitionen in den Ländern, haben sich diese trotz ihrer größeren Fragilität als stabil erwiesen. Am heftigsten knirschen sollte es in der Kenia-Koalition in Sachsen-Anhalt, die aber dennoch bis zum Ende der Legislaturperiode durchhielt und nach der Landtagswahl im Juni dieses Jahres von einer "Deutschland-Koalition" aus Union, SPD und FDP abgelöst wurde. Alle anderen Koalitionen verliefen und verlaufen weitgehend reibungslos und bisweilen sogar harmonisch. Mit Ausnahme Mecklenburg-Vorpommerns, wo die SPD künftig mit der Linken statt der CDU regieren will, wurden sie deshalb auch dort erneuert, wo es für die führende Regierungspartei Alternativen gegeben hätte, so etwa 2021 in Baden-Württemberg.
Belastbare Vertrauensgrundlage
Welche Lehren lassen sich daraus für die Ampel ziehen? Zunächst muss bedacht werden, dass infolge der Aufgabenverteilung im deutschen Föderalismus die eigentliche "Musik" auf der Bundesebene spielt. Das betrifft die Zuständigkeiten für die Innen-, Wirtschafts-, Sozial- und Klimapolitik ebenso wie die damit eng verwobene Europa- und Außenpolitik. Von daher sind die potenziellen Konflikte und Stolpersteine für die beteiligten Seiten hier ungleich größer als in den Ländern.
Ausweis der schwieriger gewordenen Koalitionsbildung sind die längere Dauer der Sondierungen und Koalitionsverhandlungen, die sich nach der letzten Wahl fast ein halbes Jahr hinzogen, und die immer umfangreicheren Koalitionsverträge. Zumindest was die Dauer der Verhandlungen angeht, haben die drei angehenden Ampelpartner Besserung gelobt und streben den Abschluss der Regierungsbildung bis zum Jahresende an.
An der Länge und Detailliertheit der Vereinbarungen wird sich aber vermutlich nicht viel ändern, die Verhandlungsdelegationen sind nur unwesentlich kleiner als 2018. Denn nur auf das, was vertraglich festgelegt worden ist, können die Partner während ihrer gemeinsamen Regierungszeit verbindlich pochen. Damit eine so heterogene Verbindung wie die Ampel funktioniert, bedarf es einer belastbaren Vertrauensgrundlage zwischen den hauptbeteiligten Personen sowie der Bereitschaft, sich gerade in den Fragen entgegenzukommen, die die Markenkerne der Parteien umschreiben.
Respekt vor dem Markenkern der Partner
Beide Voraussetzungen scheinen nach dem Abschluss der Sondierungen gegeben. Als Vorteil hat sich erwiesen, dass die FDP diesmal nicht wie 2017 aus der außerparlamentarischen Opposition heraus unmittelbar auf die Regierungsbank strebt, sondern ihre Erfahrungen und Kontakte aus der Parlamentsarbeit der letzten vier Jahre einbringen kann. Auch inhaltlich haben SPD und Grüne den Liberalen weitreichende Zugeständnisse gemacht. So soll es weder Steuererhöhungen noch ein allgemeines Tempolimit geben. An der Schuldenbremse wird zumindest formal ebenfalls nicht gerüttelt.
Wie die Koalitionäre das Regierungsmanagement institutionell absichern, ob sie etwa über wichtige Themen in Koalitionsrunden vorab entscheiden und welche Rolle das Kanzleramt spielt, ist derzeit noch offen.
All das hilft der FDP, die Ampel bei ihren Mitgliedern und Wählern als Erfolg zu verkaufen. Wie die Markenkerne zum Ausdruck kommen, entscheidet neben den Inhalten nicht zuletzt die Ressortverteilung. Auch wenn die Ampelpartner beteuern, darüber erst am Schluss sprechen zu wollen, steht diese schon jetzt wie der sprichwörtliche Elefant im Raum. Naheliegend erscheint die Überlegung, der SPD vor allem die mit sozialen Fragen befassten, den Grünen die klimaschutzrelevanten und der FDP die mit der Digitalisierung verbundenen Ressorts zuzuschlagen. Darüber hinaus kann man auf ungeschriebene Gesetze vergangener Koalitionsbildungen zurückblicken, nach denen thematisch verwandte Ministerien wie etwa Innen und Justiz, Wirtschaft und Finanzen oder Auswärtiges, Verteidigung und Entwicklungszusammenarbeit zwischen den Koalitionspartnern aufgeteilt werden.
Das Finanzministerium hat eine Schlüsselrolle
Eine Schlüsselrolle wird der Zuordnung des Finanzministeriums zukommen. Es wurde bereits vor der Wahl von den Grünen und der FDP gleichermaßen beansprucht. Würde sich die FDP durchsetzen, könnte das die Möglichkeiten der SPD wie der Grünen, ihre eigenen Markenkerne sichtbar zu machen, empfindlich einschränken, sind doch sowohl die Sozial- als auch die Klimapolitik in hohem Maße an die Finanzen gekoppelt. Es ist daher durchaus denkbar, dass das Ressort am Ende weder den Grünen noch der FDP zufällt, sondern bei der Partei bleibt, die den Kanzler stellt. Dies entspräche zugleich der Praxis der meisten früheren Regierungen.
Last but not least wird es eine interessante Frage sein, wie die Koalitionäre das Regierungsmanagement institutionell absichern, ob sie zum Beispiel an die in der Regierungszeit Helmut Kohls etablierte Praxis, über wichtige Themen in Koalitionsrunden vorab zu entscheiden, anknüpfen, und welche Rolle das Kanzleramt spielt. Dessen Machtzuwachs auf Kosten der klassischen Ressorts hat vor allem mit der gewachsenen Bedeutung der Europapolitik zu tun, zeigte sich in den vergangenen Wahlperioden aber auch in innenpolitischen Bereichen wie der Flüchtlingspolitik oder der Pandemiebekämpfung. Es ist kaum anzunehmen, dass Olaf Scholz (SPD) und ein mutmaßlicher neuer Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt diese Geländegewinne wieder preisgeben. Vielmehr dürften sie alles daransetzen, den Kanzlerbonus, von dem Angela Merkel (CDU) so reichlich gezehrt hat, jetzt auf die Mühlen der SPD zu lenken.
Rückläufige Zustimmungswerte sind nicht selten
Der Erwartungsdruck, der auf der Ampel lastet, ist angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung und Klimapolitik immens. Entsprechend hoch ist das Risiko des Scheiterns. Rückläufige Zustimmungswerte während einer Legislaturperiode und Niederlagen bei den Landtagswahlen sind für Regierungsparteien nichts Ungewöhnliches. Wie schnell und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie eintreten, lässt sich nicht vorausahnen - zumal wie in der Ära Merkel ständig neue Krisen hinzukommen können. Nimmt man die hier erörterten institutionellen und akteursbezogenen Faktoren als Maßstab, steht die Ampel in mancherlei Hinsicht aber unter besseren Vorzeichen als die vergangenen schwarz-roten und schwarz-gelben Regierungen. Denn obwohl sie sich so lange an der Macht gehalten hat, war Merkel keine besonders begabte Koalitionspolitikerin. Ob Scholz hier ein besseres Händchen behält und die Ampel vielleicht sogar über 2025 hinaus Bestand hat, werden die kommenden Jahre zeigen.
Der Autor ist Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Bonn.