Blick in die Geschichte : Wie Deutschland ein Einwanderungsland wurde
Mehr als ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Flucht ist nicht der Hauptgrund dafür, dass Menschen in die Bundesrepublik kommen.
In die Kohleregion Ruhrgebiet, ins industriestarke Sachsen, mit dem Schiff über das Meer - auch hierzulande zogen Menschen seit Jahrhunderten in weniger von Armut geprägte Regionen um. Eine Seemacht war Deutschland indes nie, es war auch nicht in großem Umfang an der Kolonialisierung beteiligt. Beides sind Gründe dafür, dass Zuwanderung andernorts mehr Tradition hat. Über Jahrzehnte hielten die beiden deutschen Staaten zudem an der Idee fest, dass Zuwanderung nur kurzzeitig erfolgen solle. Eine Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft war in der DDR regelrecht unerwünscht, in der Bundesrepublik galt sie zumindest als unnötig.
Gastarbeiter aus der Türkei hier bei einem Warnstreik der IG Metall während der Tarif-Verhandlungen bei Daimler-Benz in Marienfelde in Berlin.
"Die Bundesrepublik soll und will kein Einwanderungsland werden", sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bei einer Pressekonferenz, kurz vor Ende seiner Amtszeit 1981. Eine Maxime, die auch unter seinem Nachfolger Helmut Kohl (CDU) galt. Erst die rot-grüne Koalition nahm ab 1998 Anlauf, Einwanderung und Miteinander zu gestalten. Unter dem Vorsitz der allseits respektierten Christdemokratin Rita Süssmuth setzte sie eine "Zuwanderungskommission" ein, die Vorschläge zur Regelung von Migration und Integration erarbeiten sollte. 2005 verabschiedete der Bundestag das erste Zuwanderungsgesetz, das auch erstmals Integrations- und Sprachkurse zur Pflicht machte.
Recht auf Asyl spielte lange Zeit keine große Rolle
Von Zuwanderung geprägt waren da aber längst beide deutsche Staaten. Ab 1945 zogen zunächst zwölf bis 14 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aus den einstigen Ostgebieten und Osteuropa zu. Die Bundesrepublik, der im Wirtschaftswunder Arbeitskräfte fehlten, startete 1955 eine massenhafte Anwerbung: Vor allem aus Italien, der Türkei und Jugoslawien kamen 14 Millionen "Gastarbeiter". Elf Millionen zogen wieder weg; andere, vor allem aus der Türkei, holten ihre Familien nach oder gründeten eine. Gewünscht war das nicht - so wenig, dass der Deutsche Bundestag 1983, allerdings ohne nennenswerten Erfolg, eine Prämie für rückkehrwillige Türken beschloss. Die DDR warb ab 1967 "Vertragsarbeiter" aus Vietnam, Mosambik, Kuba und Angola an, und unterwarf diese noch weit strengeren Regelungen. 1989 lebten noch rund 100.000 von ihnen in Deutschland.
Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl spielte - obgleich weit großzügiger als heute - lange Zeit keine große Rolle. Das änderte sich erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Hunderttausende flohen damals in Folge des Zerfalls von Jugoslawien nach Deutschland. 1993 erschwerte die vereinigte Bundesrepublik das Recht auf Asyl. Seither wurde die Genfer Flüchtlingskonvention wichtiger, seit 2013 auch der "subsidiäre Schutz". Beide besagen, dass Menschen nicht in eine Situation zurückgeschickt werden dürfen, in denen ihnen Gefahr droht. Wird über "Flüchtlinge" oder "Geflüchtete" gesprochen, sind damit Menschen mit unterschiedlichen - und unterschiedlich befristeten - Aufenthaltserlaubnissen gemeint.
2021 kamen zwei Drittel der Zugewanderten aus Europa
Die größte Gruppe Geflüchteter sind seit 2015/16 Syrer; nach Türken, Polen und Ukrainern stehen sie auf Platz vier der in Deutschland lebenden Nationalitäten. Weitere wichtige Flucht-Staaten sind Afghanistan, die Türkei, Iran und Irak. Aus afrikanischen Ländern kommt weniger als jeder zehnte Flüchtling, die meisten aus Eritrea und Somalia. Ukrainer leben und arbeiten mit einem Sonderstatus in Deutschland.
Der Anteil der Fluchtmigration wird oft überschätzt. "Die größten Zuwanderergruppen kommen aus der Europäischen Union sowie als sogenannte Erwerbsmigranten aus nichteuropäischen Ländern" erklärte die Soziologin Özlem Konar bei der Vorstellung des Berichts des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für 2021. Konkret kamen 2021 - also noch vor dem Ukraine-Krieg - zwei Drittel der 1,3 Millionen Zugewanderten aus Europa, meistens aus Rumänien, Polen und Bulgarien. Außerhalb der EU sind Indien, die Türkei und die USA wichtige Herkunftsländer. Auch 130.000 internationale Studierende zogen nach Deutschland, die meisten von ihnen stammten aus China.
Mehr als ein Viertel der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund
All das führte dazu, dass Deutschland heute mit klassischen Einwanderungsländern gleichauf liegt: Ein Sechstel der deutschen Bevölkerung wurde im Ausland geboren - etwa so viel wie in den USA und Großbritannien, aber immer noch weniger als in Schweden oder Kanada, der Schweiz oder Luxemburg. Rund 24 der 83 Millionen Einwohner haben einen "Migrationshintergrund". So wird bezeichnet, wer mindestens ein im Ausland geborenes Elternteil hat. Obgleich umstritten, wird der Begriff oft verwandt, um den Stand der Integration zu untersuchen.
Wie es um die Integration bestellt ist, wird nicht nur in der Öffentlichkeit mit Verve debattiert, sondern auch wissenschaftlich untersucht. Zuletzt warf die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein Schlaglicht auf Deutschlands größte Herausforderung: In Bildung wie Beruf sind Zugewanderte und ihre Nachkommen schlechter integriert als "Biodeutsche" - auch im Vergleich zu anderen Industriestaaten. Schon allein, dass mehr als jeder Dritte in einem Beruf arbeitet, für den er überqualifiziert ist, sei ein "riesiges Potenzial", konstatierte OECD-Migrationsexperte Thomas Liebig bei der Vorstellung der "Settling In"-Studie im Juni.
Zugleich attestiert die OECD Fortschritte: Im Vergleich zu vor zehn Jahren sind Zugewanderte häufiger erwerbstätig, üben öfter hoch qualifizierte Berufe aus. Ihre Kinder schneiden in Bildungsstudien deutlich besser ab. Und das, obwohl die Lage in Schulen immens herausfordernd ist, auch weil immer mehr Lehrkräfte fehlen. Das System sei "so auf Kante gestrickt", dass die Bezeichnung der Situation als Krise untertrieben sei, erklärt Philip Lorenz, Leiter einer Schule in Berlin-Wedding, an der neun von zehn Kindern zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Bedauerlich sei das vor allem, weil er weiß, was Schule leisten könnte: "Geben Sie mir mehr Raum, mehr Leute oder weniger Kinder. Dann schaffen wir alles."
Hindernisse im Bildungswesen
Vielen Menschen in Deutschland ist das durchaus bewusst: Jeder dritte sieht laut Integrationsbarometer des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) im Bildungswesen Gleichstellungshindernisse für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte; auf dem Arbeitsmarkt sogar mehr als die Hälfte. Zugleich zeigt das Barometer seit mehr als zehn Jahren eine stabile, überwiegend positive Wahrnehmung des Integrationsalltags. Als "Schattenseite" vermeldete der SVR 2022 Diskriminierungswahrnehmungen, die vor allem unter Türkeistämmigen verbreitet sind. Jeder Fünfte berichtet von Benachteiligungen.
Insgesamt sei die Lage in vieler Hinsicht besser als oft wiedergegeben, meint auch OECD-Experte Thomas Liebig. Dennoch würden "die Menschen glauben, die Lage verschlechtert sich". Verantwortlich seien dafür auch die Medien: "Wie Zuwanderung dargestellt wird, ist wichtig. Denn eigentlich trennt Zuwanderer und Nicht-Zuwanderer nicht viel."
Die Autorin ist freie Journalistin.