Piwik Webtracking Image

Foto: picture-alliance/Heritage-Images/Fine Art Images
Arnold Böcklins Gemälde zeigt eine Szene aus Homers "Odyssee", in der der griechische Held Odysseus und seine Gefährten nur knapp dem Zyklopen Polyphem entkommen. Doch damit beginnt die zehnjährige Irrfahrt Odysseus erst.

Migration als Konstante : Menschen in Bewegung

Eine Geschichte Deutschlands ohne Migration zu erzählen, ist undenkbar. Seit Jahrtausenden suchen Menschen nach einem besseren Leben.

14.08.2023
2024-01-26T14:29:55.3600Z
6 Min

Eine der ältesten und einflussreichsten Dichtungen der Weltliteratur zeigt einen Helden in Bewegung: Die Odyssee beschreibt keinen, der zuhause bleibt, sondern einen Helden, der aufgebrochen war und nach einer langen Irrfahrt wieder heimkehrt - mit der auch für unsere Gegenwart lehrreichen Pointe, dass Odysseus auch dort die einst vertraute Welt nicht wiederfindet.

Zivilisationen zeigen Migration als Konstante der Menschheitsgeschichte

Migration, die Suche nach einem neuen Lebensmittelpunkt, sei er dauerhaft, sei er vorübergehend, ist eine menschheitsgeschichtliche Konstante. Das zeigt die Besiedlung Europas durch Homo sapiens, der wohl aus Afrika über die Arabische Halbinsel und den östlichen Mittelmeerraum nach Norden wanderte. Und das zeigen erst recht die späteren Zivilisationen, die griechische Kolonisation im ersten vorchristlichen Jahrtausend, die "Völkerwanderungen" an der Schwelle der Spätantike zum europäischen Mittelalter, die europäische Expansion der Neuzeit, die chinesische Auswanderung in Asien und die europäische nach Übersee im 19. Jahrhundert.

Mehr zum Thema

Mehr zum Thema "Die Bundesrepublik wird attraktiv für Migranten bleiben"
Interview mit Migrationsforscher Jochen Oltmer: "Die Bundesrepublik wird attraktiv für Migranten bleiben"

"Der Mensch der Vormoderne war ebenso wenig grundsätzlich sesshaft wie der Mensch der Moderne", so hat es der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer beschrieben. Ein Mensch bricht auf, verlässt die Heimat, bricht die Zelte ab, lässt ein Haus zurück, Familie, Freunde, Vertrautes. Die Gründe dafür sind vielgestaltig, das zeigt ein Blick auf das europäische Mittelalter: Migration wird getrieben durch die Aussicht auf besseren Broterwerb und Perspektiven für die Nachkommen, sie ist Teil der Bildungsbiographie - als Student genauso wie als Geselle auf der Walz. Sie begegnet als Flucht aus der Enge des Dorfes in die Stadt, deren Luft frei macht, als Flucht auch aus der Erbteilung, die die Höfe schrumpfen lässt, als Flucht vor Klimaveränderungen, die Böden unrentabel macht, vor Kriegsherren und Söldnerheeren, die brandschatzend und mordend durch die Lande ziehen.

Reihe von Beispielen für die begrenzte Aufnahmefähigkeit eines Gemeinwesen

Wie in der Gegenwart auch gibt es die Flucht vor Naturkatastrophen, vor Repression, religiöser Verfolgung, aus Sorge um die Sicherheit für Leib und Leben. Und auch für den begrenzte Aufnahmewillen, vielleicht auch die begrenzte Aufnahmefähigkeit eines Gemeinwesens finden sich anschauliche Beispiele: Mit Bettlerordnungen versuchten mittelalterliche Städte sich all jener zu erwehren, die als nicht sesshaft galten und aus der Ordnung dieser damaligen Welt herausgefallen waren, einer Welt, die immer mehr zwischen "ehrbarer Armut" und falschem Bettel unterschied, zwischen erwünschten Arbeitskräften und unerwünschten Mobilisierten, die heute wohl unter das Rubrum "irreguläre Migranten" fallen würden.

Eine Geschichte Deutschlands ohne Migration zu erzählen, ist eigentlich undenkbar, das erklärt allein schon die europäische Mittellage. Man muss dabei nicht bis in die Zeiten der Kelten, Germanen und Römern zurückgehen, auch nicht zu den französischen Protestanten, die religiöse Verfolgung im vorrevolutionären Frankreich hinter sich ließen, um sich in Brandenburg niederzulassen, wie es der Große Kurfürst in Potsdam 1685 toleranzverfügt hatte. Dass zwischen der Reichsgründung 1871 und Erstem Weltkrieg rund fünf Millionen Deutsche nach Übersee, vor allem in die USA, auswanderten, ist noch weithin bekannt. Aber wer weiß schon, dass auch gleichzeitig "Gastarbeiter" in großer Zahl in den Gruben, Schmieden und Essen der aufstrebenden Industrienation malochten, die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte - ohne Saisonarbeiter - auf 1,3 Millionen angewachsen war?

"Bis zum Jahr 2014 kamen auch dank dieser EU-Freizügigkeit drei Viertel aller Zuwanderer nach Deutschland aus dem europäischen Ausland"

Die größte Wanderungsroute heute verzeichnet die Internationale Organisation für Migration (IOM) in den Jahren 2000 bis 2020 zwischen Mexiko und den USA, knapp elf Millionen Migranten aus Mexiko lebten 2020 in den Vereinigten Staaten. Bedeutende Korridore für Arbeitsmigranten bestehen zwischen Indien und jeweils den USA, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, für Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Krieg zwischen Syrien und der Türkei, Afghanistan und Iran. Auf der IOM-Liste dieser größten Wanderungsachsen der Gegenwart findet sich Deutschland auf Rang 12, und es ist keine Achse, die einer Masseneinwanderung des globalen Südens nach Mitteleuropa den Weg weist, sondern eine unter Nachbarn: Mehr als 2,1 Millionen polnische Staatsbürger lebten 2020 in Deutschland, die damit wie die Einwohner aller EU-Mitgliedsländer von der Freizügigkeit in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit rund 447,7 Millionen Menschen profitieren. Das änderte sich mit dem starken Anstieg der Zuwanderung von Asylsuchenden im Jahr 2015, zunächst vor allem als Folge des Bürgerkriegs in Syrien. Damals sank der Anteil europäischer Zuwanderer nach Deutschland erstmals unter 60 Prozent.

Trauriger Rekord: 108,4 Millionen Menschen auf der Flucht

Laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) waren Ende 2022 weltweit 108,4 Millionen Menschen auf der Flucht, ein trauriger Rekordwert. 62,5 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene durch Konflikte und Gewalt, die Sicherheit in der Nähe ihrer Herkunftsregion suchen. Dass Flucht durch Krieg und drohende oder erlebte Gewalt selten linear verläuft, eher etappenweise und nicht zwangsläufig über große Entfernungen - auch das ist ein Befund der Migrationsforschung. Größere Fluchtdistanzen sind eher die Ausnahme, nicht die Regel. Der übergroße Anteil der 5,6 Millionen syrische Flüchtlinge sind in den Nachbarländern Türkei, Libanon und Jordanien untergekommen, wie das Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit angibt. Etwa 6,8 Millionen Syrerinnen und Syrer gelten demnach als Binnenvertriebene. In Deutschland lebten laut Ausländerzentralregister im vergangenen Jahr etwa 924.000 Menschen aus Syrien. Dass es 2015 zu Versorgungsengpässen in Flüchtlingslagern rund um Syrien kam, dass wohlhabende Länder Hilfszusagen etwa an das UNHCR nicht einhielten, darunter auch Deutschland, gilt heute als ein Kardinalfehler und als einer der Auslöser der dann folgenden Fluchtbewegungen Richtung Europa.

Der "Globale Pakt für eine sichere, geordnete und regulierte Migration", auf den sich die internationale Staatenwelt 2018 bei einer UN-Konferenz in Marrakesch einigen konnte, kann als Versuch gesehen werden, sich auf eine transnationale Gestaltung und Steuerung globaler Migration zu verständigen. Im Kern geht es zum Beispiel darum, Lebensbedingungen weltweit so zu verbessern, dass mehr Menschen in ihrer Heimat bleiben können, und anderseits dafür zu sorgen, dass Migranten fair behandelt werden. Doch Widersprüche bleiben.

Von einem "Migrationsdilemma der Globalisierung" sprach der Migrationsforscher Franck Düvell bereits im Jahr 2006: Es sei jedenfalls bisher nicht gelungen, den Widerspruch zwischen globalisierten Märkten, die auf hochmobile Arbeitskräfte setzten, und dem Konzept des Nationalstaats mit seinem unweigerlich auf Grenzen fußendem Territorialprinzip aufzulösen. Der UN-Migrationspakt weckte, obgleich rechtlich nicht bindend, zum Beispiel Befürchtungen, dass Staaten nicht mehr Herr des Verfahrens sein könnten, darüber zu entscheiden, wer kommen und wer bleiben darf - und wer nicht. Unbestreitbar kann Zuwanderung Gesellschaften vor Herausforderungen stellen, Sorgen vor Ressourcenkonkurrenz und Verteilungskonflikten wecken, vor abnehmender sozialer Kohäsion - übrigens nicht nur bei der eingesessene Bevölkerung, sondern auch unter bisher Zugewanderten in diesen Gesellschaften selbst. Zuwanderung bedeutet größere Vielfalt, aber auch mehr Anstrengungen für Aushandlungsprozesse in einer größer werdenden Bandbreite der Interessen. "Selbst die liberalste Einwanderungspolitik ist auch Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik" - so hat es die Migrationssoziologin Ingrid Oswald beschrieben.

Japan: Außergewöhnlich homogene Bevölkerungsstruktur

Auch am anderen Ende der Skala, also bei einer Politik, die Zuwanderung nur niedrig dosiert zulässt, zeigen sich Widersprüche. Besonders anschaulich wird das in Japan: Der Inselstaat hat eine für ein Industrieland außergewöhnliche Homogenität der Bevölkerungsstruktur, der Anteil der ausländischer Einwohner an der Gesamtbevölkerung liegt bei gerade einmal 2,4 Prozent. Dass das Land es mit einer rasant älter werdenden Bevölkerung zu tun hat, die Zahl der Einwohner dramatisch schrumpft, ist die Kehrseite dieser Politik, die das Problem bisher auch nicht mit verstärkter Familienförderung in den Griff bekommt. Um etwa 800.000 Menschen ist die Anzahl japanischer Staatsbürger 2022 zurückgegangen, das ist die Dimension einer ganzen Großstadt.

Migrationspolitik dürfte auch in den kommenden Jahren ein zentrales Politikfeld bleiben: Dafür spricht, dass geographische Mobilität unter globalisierten Bedingungen eher zu- als abnehmen dürfte, dafür spricht auch, dass die Menschheit weiter wächst, und dass dieses Wachstum vor allem Städte betrifft und Wanderungsbewegungen vom Land in die Metropolen befeuert werden. Auch die Folgen des Klimawandels dürften ein Treiber für Migration werden, so sieht es zum Beispiel der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Integration und Migration (SVR), der dieses Thema in seinem Jahresgutachten 2023 ins Zentrum gestellt hat.

Mehr zum Thema

Zwei Männer stehen vor den Ruinen des abgebrannten Flüchtlingslagers in Moria
EU-Außengrenze Lesbos: Eine Insel im Ausnahmezustand
Journalistin Franziska Grillmeier im Interview über die griechische Insel Lesbos, Gemeinsamkeiten von europäischen Grenzorten und den Abbau von Rechtsstaatlichkeit.
Zu sehen ist eine lange Mauer neben einer Straße.
Abwehr von Migranten: Zahl der festen Grenzanlagen hat sich global verfünffacht
Weltweit sollen Mauern und Grenzen auf einer Gesamtlänge von 26.000 Kilometern Zuwanderer fern halten. Abschottung liegt im Trend, auch bei uns in Europa.
Collage der drei Porträtierten
Gesichter der Zuwanderung: Viele Wege führen nach Deutschland
Warum kommen Menschen in die Bundesrepublik? Vier Zuwanderer aus der Ukraine, Pakistan und Indien erzählen ihre Geschichte.

Es geht nicht etwa in erster Linie um die Bedrohung von Südsee-atollen durch einen Anstieg des Meeresspiegels, sondern zum Beispiel um die befürchtete Zunahme von Extremwetterereignissen, die großflächig Ernten verhageln oder verdorren lassen und die Produktion von Grundnahrungsmitteln gefährden könnten. Auch der Sachverständigenrat geht davon aus, dass klimawandelbedingte Migration vor allem innerstaatlich oder über kurze Distanzen, etwa in das Nachbarland stattfindet. Und das treffe insbesondere zahlreiche Länder des globalen Südens, die es zu unterstützen gelte. Länder übrigens, die weder aktuell noch in der Vergangenheit nennenswert zum Ausstoß der großen Klimawandeltreiber CO2, Methan oder Lachgas beigetragen haben.