Zwei Jahre Bürgergeld : Sozialstaat im Dauerfeuer
Die Abkehr von Hartz IV hat die Debatte keineswegs befriedet. Arbeitsmarktforscher Markus Promberger vom IAB wirft einen nüchternen Blick auf einige Fakten.
Herr Promberger, zwei Jahre wurde die Ampel- Regierung vor allem von der Union beim Bürgergeld vor sich hergetrieben. War das aus Ihrer Sicht eine konstruktive Debatte?
Markus Promberger: Aus Sicht der SPD war sie es vermutlich nicht, weil die Sanktionen, die Teile der SPD und der Grünen eigentlich abschaffen wollten, Zug um Zug wieder etabliert worden sind. Andererseits waren die Forderungen von liberal-konservativer Seite nach einer Verbesserung der Anrechnungsmodalitäten für Nebeneinkünfte durchaus konstruktiv. Denn aus der Forschung wissen wir: Solange Menschen tätig sind, egal ob im Minijob oder Ehrenamt, geraten sie nicht aus dem System und haben das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein. Und das ist etwas ganz Elementares.
Die Sanktionierung des Existenzminimums ist aber durchaus umstritten.
Markus Promberger: Ins Existenzminimum zu sanktionieren hat das Bundesverfassungsgericht aus gutem Grund stark eingegrenzt. In der Wissenschaft geht es vor allem darum, ob und was man überhaupt sanktioniert. Kollektivgüter wie der Wohlfahrtsstaat funktionieren nur richtig, wenn sie gut gemanagt werden und Missbrauch verhindert wird. Und deshalb müssen Sanktionen möglich sein. Aus der Soziologie wissen wir auch, dass schon die Androhung einer Sanktion mindestens genauso gut funktionieren kann wie die Sanktionen selbst. Insgesamt wird ziemlich wenig sanktioniert. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass den meisten Menschen im Bürgergeld klar ist, dass sie mitwirken müssen und viele das auch wollen. Um die Sanktionen ist ein medialer Hype entstanden. Aber ganz ohne geht es auch nicht.
Im Zentrum der Debatte steht auch die Frage der Kosten. Derzeit sind rund 44 Milliarden Euro für das Bürgergeld eingeplant.
Markus Promberger: Neben der Existenzsicherung bedürftiger Menschen handelt es sich letztlich um Kosten für den sozialen Frieden, und dafür ist das Geld, wie ich finde sinnvoll, ausgegeben. Was würden die Menschen denn ohne Grundsicherung tun? Unter der Brücke schlafen? Aufstände? Also: Wir haben ein System, das tatsächlich bei den Betroffenen ankommt, selbst wenn es alles andere als luxuriös ist.
Der andere große Kritikpunkt lautete, der Abstand zu den untersten Lohngruppen sei so gering, dass sich Arbeit nicht mehr lohne.
Markus Promberger: Sich auf die Anhebung der Regelsätze zu fixieren, die letztlich nicht viel mehr als ein Inflationsausgleich war, greift ein wenig zu kurz. Man kann auch argumentieren: Niedriglöhne sind zu niedrig und deshalb nahe an der Grundsicherung. Vor allem aber gibt es konstant rund eine Million Menschen, die einen geringen Lohn oder Arbeitslosengeld I mit der Grundsicherung aufstocken müssen. Sie arbeiten oder sind auf der Suche nach Arbeit. Wir können also nicht pauschal davon sprechen, dass die Höhe der Grundsicherung über den Abschied von der Erwerbsarbeit entscheidet.
Die SPD wollte mit dem Bürgergeld Hartz IV überwinden und einen "Sozialstaat auf Augenhöhe" etablieren. Wurden dafür die richtigen Weichen gestellt?
Markus Promberger: Wir kommen nicht daran vorbei, dass die Gewährung der Grundsicherung eine hierarchische Angelegenheit ist. Wenn wir das ändern wollten, dann müssten wir überlegen, ob die Betreuung der Menschen in einer anderen Einrichtung stattfindet als in jener, in der auch über die Gewährung von Leistungen entschieden wird. Solange beides hinter derselben Tür passiert, existiert automatisch eine Hierarchie. Auch die schriftliche Kommunikation ist hierarchisch, sie fordert bestimmtes Verhalten und droht mitunter Konsequenzen für Verstöße an, der Ton ist obrigkeitlich. Und damit gehen Menschen unterschiedlich um.
Worüber gestritten wird
💬 Nachdem vor einem Jahr Pläne für die Erhöhung der Regelsätze konkret wurden, musste sich die Regierung heftige Kritik anhören. Arbeit lohne sich nicht mehr, hieß es vor allem aus der Unionsfraktion.
📜 Im März 2024 reagierte die Regierung mit einer Verschärfung der Sanktionen.
👥 Für ein Ende des derzeitigen Bürgergeldes plädieren Union und AfD. Umstritten ist auch der Bürgergeldbezug von ukrainischen Flüchtlingen.
Langzeitarbeitslose Menschen müssen oft erst befähigt werden, eine Arbeit aufnehmen zu können, durch Qualifizierung oder durch Abbau anderer Vermittlungshemmnisse. Haben Jobcenter die Ressourcen dafür?
Markus Promberger: Es gibt im SGB II die Institution des Fallmanagements. Dort arbeiten Menschen mit sozialpädagogischer oder psychologischer Ausbildung. Wenn jemand dorthin kommt, hat er oder sie in der Regel gute Chancen, beim Marsch durch die Beratungs- und Hilfsangebote gut unterstützt zu werden. Das ist aber erst ein zweiter Schritt, der erste führt zur Fachkraft für Arbeitsvermittlung. Allerdings ist bekannt, dass viele ihrer Klienten gar nicht ohne weiteres in den Arbeitsmarkt reinkommen. So sind zwischen 40 und 50 Prozent der Menschen in der Grundsicherung gesundheitlich eingeschränkt. Hier wäre noch mehr gezielte Unterstützung sicher nicht verkehrt. Es könnte helfen, wenn schon das erste Beratungsgespräch mit stärker sozialarbeiterisch qualifizierten Jobcenter-Mitarbeitern geführt werden könnte.
Über Arbeit entsteht gesellschaftliche Teilhabe. Wovon hängt es ab, wie gut ich einen Arbeitsplatzverlust verkrafte?
Markus Promberger: Das ist massiv davon abhängig, was jemand für soziale Netzwerke hat. Wenn es bei Ihren Freunden und Verwandten normal ist, arbeitslos zu sein, dann halten Sie es länger durch. Aber ansonsten sind Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug Stigmata, die nicht so leicht verschwinden. Je länger sie dauern, ab zirka einem halben Jahr, wenn man realisiert, dass man da vielleicht nicht so schnell wieder rauskommt, werden es biografische Zäsuren, die an einem kleben bleiben. Menschen verwinden in der Tendenz den Tod eines nahen Angehörigen nach einigen Jahren, längere Arbeitslosigkeit jedoch bleibt noch länger belastend, das haben Untersuchungen gezeigt.
Nun gab es in den vergangenen Jahren einige Reformen am sozialen Arbeitsmarkt, also bei geförderter Beschäftigung. Mit Erfolg aus Ihrer Sicht?
Markus Promberger: Die Programmvariante für die etwas arbeitsmarktnäheren Langzeitarbeitslosen erhöht tatsächlich die Beschäftigungschancen der Betroffenen, bei der Variante für die richtig arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen besteht der Erfolg eher darin, die Betroffenen in und durch die Förderjobs sozial einzubinden, durch sinnvolle Tätigkeit, strukturierten Alltag, Zusammenwirken mit anderen.
Schützt mich Arbeit in jedem Fall vor Teilhabeverlust?
Markus Promberger: Ich denke, jede Arbeit ist erstmal besser als arbeitslos zu sein. Die empirischen Ergebnisse zeigen aber, dass die Teilhabeeffekte verschiedener Formen von Arbeit in der Tat unterschiedlich sind. Am besten funktioniert es bei einem Normalarbeitsverhältnis, schlechter bei atypischer Beschäftigung wie in Minijobs oder befristeter Arbeit und noch ein bisschen schlechter bei geförderten Beschäftigungen.
Was halten Sie von Prämienzahlungen, um Arbeitsanreize zu stärken?
Markus Promberger: Das ist ein schwieriges Thema. Jemand, der arm ist, keine Leistungen bezieht und sich selbst einen Job sucht, würde demnach leer ausgehen. Das kann Ungerechtigkeiten schaffen. Ich denke, dass die Erhöhung der Hinzuverdienstgrenzen im Bürgergeld dafür der bessere Weg ist. Selbstverdientes Geld fühlt sich besser an als diese Prämie.
Mit dem Bürgergeld wurde auch der Vermittlungsvorang abgeschafft. Statt Vermittlung in Arbeit um jeden Preis liegt der Fokus jetzt auf Qualifizierung. Wie gut funktioniert das?
Markus Promberger: Dafür gibt es noch keine ausreichend validen Daten. Wir wissen aber, wohin die Leute gehen, die aus der Grundsicherung heraus eine Arbeit aufnehmen. Die wechseln nicht unbedingt in ein schönes Normalarbeitsverhältnis, sondern ins Niedriglohnsegment und oft auch eher prekäre Beschäftigung.
Also ist Qualifizierung doch das Gebot der Stunde?
Markus Promberger: Mit Investitionen in Bildung und Qualifikation kann diese negative Pendelbewegung zwischen Billigjobs und Stütze ausgehebelt werden. So haben die Menschen zumindest eine Chance, irgendwann mal stabil beschäftigt zu werden. Der Vermittlungsvorrang muss deshalb aber nicht ganz abgeschafft, sondern besser fallspezifisch angewendet werden. Bei bildungsbereiten Menschen mit Interesse an Weiterbildung, denen aber die berufliche Qualifikation noch fehlt, würde ich ganz klar einen Vermittlungsvorrang für falsch halten. Für einen schon gut ausgebildeten Ingenieur hingegen nicht unbedingt.
Die CDU möchte das Bürgergeld durch eine "Neue Grundsicherung" ersetzen. Sie schreibt dazu in ihrem Konzept, "schlecht gemachte Sozialpolitik lähmt die Menschen". Was ist denn gut gemachte Sozialpolitik?
Markus Promberger: Also, gut gemachte Sozialpolitik ist aus meiner Sicht gar nicht so weit weg von Hartz IV. Das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz verpflichtet uns zu einer Grundsicherung. Die muss nicht so viel anders aussehen, als Hartz IV das getan hat. Etwas mehr Großzügigkeit, mehr Respekt und Verständnis im Einzelfall, mehr sozialarbeiterische Kompetenz im Front Office - und wir haben ein gutes System.
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