Zeitzeuge im Interview : "Das Schlimmste in den Akten sind die Spitzelberichte"
Mario Röllig über seine Erlebnisse im Visier der Stasi: von der versuchten Anwerbung als Spitzel, einer gescheiterten Flucht und den Folgen für sein heutiges Leben.
Herr Röllig, wir treffen uns hier in der Wanderausstellung des Stasi-Unterlagen-Archivs „Alles wissen wollen – Die Stasi und ihre Dokumente“. Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie Ihre Stasi-Akte eingesehen haben?
Mario Röllig: Ja, das war ziemlich krass. 1992 hatte ich die Akte beantragt, aber man sagte mir damals, dass sie nichts über mich gefunden hätten. Da war ich total traurig. Fünf Jahre später, 1997, bekam ich dann doch eine Einladung zur Akteneinsicht. Ich erhielt fünf Ordner mit insgesamt 2.000 Seiten. Das Schlimmste in den Akten sind die Spitzelberichte. Ich fand heraus, dass vier Personen auf mich angesetzt waren: zwei Kollegen, ein Nachbar und mein bester Freund.
Haben Sie ihn darauf angesprochen?
Mario Röllig: Ja, ich habe ihn mit seinen Berichten zur Rede gestellt. Er wurde knallrot und kreidebleich zugleich. Denn man hatte ihm 1990 versprochen, dass die Stasi alle Unterlagen vernichten würde. Aber es waren anscheinend so viele Unterlagen, dass sie es nicht geschafft haben. Als ich ihn mit meiner Akte konfrontierte, sagte er: „Was willst du eigentlich von mir? Wäre ich es nicht gewesen, hätte es jemand anderes gemacht“. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er sich entschuldigt. Da von ihm aber nichts kam, bin ich aufgestanden und wir haben uns seitdem nie mehr gesehen.
Wie ist die Stasi denn auf Sie aufmerksam geworden?
Mario Röllig: 1985 hatte ich mit 17 Jahren meine erste Urlaubsreise nach Budapest. Dort habe ich meinen ersten Freund aus West-Berlin kennengelernt – und dann ging die Geschichte los: Die Stasi wollte mich im November 1986 zur Mitarbeit als Informant bewegen. Denn mein damaliger Freund war für die Stasi politisch interessant; er war im Bereich der Wirtschaftspolitik tätig. Die Stasi wollte mich dazu bringen, Informationen über ihn herauszufinden. Mit diesen Informationen wollten sie meinen Freund dann erpressen, damit er als Spion im Westen für die DDR arbeitet. Ich habe das rigoros abgelehnt. Denn ich wurde dazu erzogen, loyal, offen und ehrlich zu sein und keine Freunde zu verraten.
Welche Folgen hatte es, dass Sie die Zusammenarbeit mit der Stasi abgelehnt haben?
Mario Röllig: Damit begann mein sozialer Abstieg. Ich war damals Kellner am Flughafen Berlin-Schönefeld. Das war das Tor zur Welt und etwas ganz Besonderes. Ich habe dort wahnsinnig gut verdient, weil wir auch Westtouristen hatten. Als ich mich weigerte, für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten, wurde ich degradiert – in eine Ostberliner Bahnhofsgaststätte. Im Bahnhof Berlin-Schöneweide musste ich den Abwasch machen. Meine dortige Chefin setzte mich im Auftrag der Stasi weiter unter Druck und wollte mich so überreden, doch noch für die Stasi zu arbeiten. Ich habe weiterhin abgelehnt. Mein damaliger Freund und ich wurden dann bei den meisten unserer Treffen in der Innenstadt in Ost-Berlin beobachtet. Egal ob wir im Museum, im Club oder im Restaurant waren.
Was für ein Gefühl war es, beobachtet zu werden?
Mario Röllig: Am Anfang macht es noch Spaß, die Leute abzuhängen. Aber irgendwann wird es anstrengend. Es war nicht so wie heute, dass man sich beschweren konnte, wenn jemand Fremdes ein Foto von einem machte. Wenn man die Leute zur Rede stellen wollte, waren sie weg und sind später ganz plötzlich wieder aufgetaucht. Die Stasi wollte, dass man sie sieht. So konnten sie vermitteln: Schaut her, ihr könnt nichts machen, ohne dass wir es wissen.
Im Frühjahr 1987 habe ich mich dann entschieden, dass ich nicht mehr in einem System leben möchte, das für mich bestimmt, wie und mit wem ich zu leben habe.
Bei der Eröffnung der Ausstellung "Alles Wissen Wollen: Die Stasi und ihre Dokumente" Ende April im Bundestag berichtet Mario Röllig (links) der SED-Opferbeauftragten Evelyn Zupke von seinen Erfahrungen mit der Stasi.
Sie haben sich dazu entschlossen, aus der DDR zu flüchten.
Mario Röllig: Genau, ich habe den Fluchtplan gefasst, über Ungarn nach Jugoslawien zu gehen. Ich wollte an die bundesdeutsche Botschaft in Belgrad und von dort nach West-Berlin. Aber an der ungarisch-jugoslawischen Grenze wurde ich aufgegriffen – nicht von der Grenzpolizei, sondern von einem Kopfgeldjäger. Das war ein Bauer, der in der Region lebte. Einige der dortigen Bauern waren so arm, dass sie für Kopfgeld Jagd auf Flüchtlinge machten. Und so wurde ich dann verhaftet. Anschließend wurde ich durch den ungarischen Geheimdienst ins zentrale Polizeigefängnis nach Budapest gebracht.
Wie erging es Ihnen dort?
Mario Röllig: Ich saß eine Woche lang in einem feuchten, dunklen, nach Urin stinkenden Kellerloch und bekam mehr Prügel als zu essen. Nach der Woche wurde ich mit anderen jungen DDR-Flüchtlingen durch die Stasi mit einem Sonderflugzeug zurück in die DDR und anschließend ins Gefängnis nach Berlin-Hohenschönhausen gebracht.
Dort blieben Sie aber nicht lange...
Mario Röllig: Ja, ich hatte Glück. Ich kam aufgrund einer Amnestie im Herbst 1987 aus dem Gefängnis frei. Ich wurde aber nicht in den Westen entlassen, sondern in die DDR. Da musste ich dann als Abwäscher weiterarbeiten. Ich durfte Ost-Berlin nicht verlassen und musste mich jede Woche bei der Polizei melden. Jede kleinste Verfehlung, wie zum Beispiel Schwarzfahren mit der S-Bahn, hätte mich wieder ins Gefängnis gebracht. So wurde ich einerseits der bravste DDR-Bürger, den man sich vorstellen konnte. Gleichzeitig bin ich ganz bewusst zu Veranstaltungen der evangelischen Kirche im Prenzlauer Berg gegangen – also zu Friedensgebeten, Umweltgottesdiensten und zu Konzerten von verbotenen Musikern. Ich war kein Bürgerrechtler, aber die Stasi merkte wohl, der lässt sich nicht mehr einschüchtern, der muss raus. Am 7. März 1988 durfte ich ausreisen – das war und ist bis heute der schönste Augenblick meines Lebens.
"Ich habe in dem Moment gemerkt, dass ich über Jahre der dunkle Teil eines geheimen Doppellebens war."
Haben Sie dann Ihren Freund aus West-Berlin wiedergetroffen?
Mario Röllig: Ich bin damals zu ihm in den Grunewald gefahren und dachte, jetzt geht unser gemeinsames Leben los. Aber nachdem ich an seiner Wohnungstür geklingelt hatte, öffnete ein kleines Mädchen und fragte mich, zu wem ich wolle. Ich sagte zu ihm. Dann dreht sie sich in die Wohnung und sagte: „Papa, kannst du mal kommen, da will jemand was von dir“. Dann stand mein damaliger Freund kreidebleich vor mir. Er hätte nie gedacht, dass ich die Flucht durchziehe und eines Tages vor seiner Haustür stehe. Ich habe in dem Moment gemerkt, dass ich über Jahre der dunkle Teil eines geheimen Doppellebens war. Seitdem haben wir uns nicht mehr wieder gesehen.
Wie haben Sie den Mauerfall am 9. November 1989 erlebt?
Mario Röllig: Im ersten Moment, als ich die Fernsehbilder sah, waren es gemischte Gefühle. Denn einerseits hat mich die Mauer von meiner Familie und von Freunden getrennt. Gleichzeitig hat mich die Mauer auch geschützt – vor den Stasi-Mitarbeitern und den Leuten, die für die Stasi gespitzelt haben. Bis heute muss ich in einer Millionenstadt wie Berlin mit diesen Leuten weiter zusammenleben. Das ist nicht nur für mich, sondern für viele andere, die so etwas wie ich oder Schlimmeres erlebt haben, eine große Ernüchterung.
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Wirken sich Ihre Erfahrungen aus DDR-Zeiten auf Ihr heutiges Leben aus?
Mario Röllig: Ja, eine Freundschaft zu finden und zu halten oder eine Liebe zu finden, ist schwierig. Wenn ich heute jemanden kennenlerne, auch wenn die Person nicht aus der DDR kommt, überlege ich mir dreimal, ob ich nicht zu viel von mir erzähle. Oder ob die Person mein Gesagtes gegen mich verwenden könnte. Das macht den Alltag manchmal sehr schwer. Das Einzige, was mir da geholfen hat, mehr als die Psychotherapie beim Arzt, ist mein Hund Othello. Mit dem muss ich auf die Straße und mit dem lerne ich Leute kennen, die ich so nicht einfach angesprochen hätte. Auch wenn niemand anderes meine Geschichten mehr hören will, sitzt mein Hund abends neben mir auf dem Sofa und hört zu.
"Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Und Aufklärung ist die beste Waffe."
Wie schätzen Sie die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ein?
Mario Röllig: Die Aufarbeitung und Forschung der DDR-Diktatur steht aus meiner Sicht nach wie vor am Anfang. Leider gibt es Fraktionen im Deutschen Bundestag, die kein wirkliches Interesse an einer umfassenden Aufarbeitung haben – sie meinen, wir müssen nach vorne gucken und nicht mehr zurück.
Was bedeutet Ihnen die Ausstellung des Stasi-Unterlagen-Archivs?
Mario Röllig: Die Ausstellung ist wieder ein Puzzlesteinchen mehr, dass die Gesellschaft daran erinnert, wie die Geschichte war. Sie erklärt, wie eine Diktatur funktioniert, was sie mit den Menschen macht und was sie hinterlassen hat – nämlich viele tausend zerstörte Leben.
Nicht jeder kann so reden wie ich und auch bei mir hat es wirklich lange Zeit gedauert, bis ich alles, was mir passiert ist, erzählen konnte. Ich bin mittlerweile seit 25 Jahren Besucherreferent und Zeitzeuge in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Außerdem bin ich seit rund 20 Jahren in Schulen, Universitäten, bei Parteien oder politischen Bildungsträgern weltweit unterwegs und berichte über den Wert unserer Demokratie. Ich finde das wichtig, denn je weiter die DDR von Jugendlichen weg ist, desto positiver wird sie. In den unruhigen Zeiten, in denen wir leben, gibt es totalitäre Tendenzen. Einige Personen wünschen sich eine führende Partei zurück. Und deshalb sind solche Ausstellungen wichtig. Wir müssen einfach dafür sorgen, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Und Aufklärung ist die beste Waffe.